KiLL50 – Kein schöner Landschaftslauf 4. und 5.11.2017

Sommer 2017, irgendwo bei Kilometer 60. Ich vollkommen zerstört und verwirrt, als Georgs Stimme zu mir durchdringt: „Im November, da ist so ein 50 Meiler. Da musst du unbedingt mitlaufen!“ Da ich zu diesem Zeitpunkt keine Kraft mehr hatte, mich verbal zu wehren, war dieser Start besiegelt.

Bei etwa 30 Grad im Schatten kann man sich nicht so recht vorstellen, dass der November überhaupt irgendwann mal kommt. Etwa 6 Wochen zuvor, stellte ich fest, dass es an der Zeit war spezifischer zu trainieren, bislang hatte ich nur an schnelleren Zeiten der „Kurzstrecken“ gearbeitet. Ich scheute mich aber auch davor, einfach mal einen 50er einzubauen, sodass ich mich strikt weiter an meinen Trainingsplan hielt. Am letzten Wochenende vor dem Start, hätte ich (eigentlich) einmal 25 und 30km laufen sollen. Mein Kopf wollte aber die 40 und bekam sie letzten Endes auch. Sie liefen recht gut und einigermaßen zügig. Als ich jedoch stocksteif wieder am Auto stand, war ich mir nicht sicher, wie ich da nochmal 40km ranhängen sollte…

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Und dann kam der Tag X. Gemeinsam kutschierten wir mit Silvan von Frankfurt aus gute 3 Stunden nach Hildesheim zur „Kulturherberge“, von der aus der Start erfolgen würde.

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Unser Sack und Pack sah eher nach Camping-Ausflug aus: Literweise Äppler, Schlafsäcke, Ersatzklamotten und Kaminholz. Der Äppler (etwas Regionales) und das Holz waren verpflichtend, um überhaupt starten zu dürfen. Wenn man sich durch tausende von Wörtern der insgesamt fünf Mails zum Prozedere durchgekämpft hat, dann findet man auch solche wichtigen Infos. Einen Auszug möchte ich zitieren, nur um die Stimmung wiederzugeben:

„Das Gewitter legt die Vermutung nahe, der Himmel habe ein
harntreibendes Mittel geschluckt. Blitz und Donner hält sich im
Hintergrund und schafft eine angemessene Kulisse für den Start auf der
Bühne: den Regen. Ausgelassen tanzt er übers Land, in der festen
Absicht, alle Läufer zu ersaufen.
Pechschwarze Finsternis wartet und grinst erwartungsvoll.
Eine einsame Nebelschwade erfreut sich über die unerwartete
Gesellschaft und kondensiert am Nacken der Starter.
Der Prüfer lächelte. Es war kein besonders freundliches Lächeln. Es
wirkte dünn und ausgetrocknet, als sei die Wärme schon vor langer Zeit
heraus gekocht worden. Normalerweise erwartete man ein solches Lächeln
von Leuten, die seit zwei Jahren tot in einer besonders heißen Wüste
lagen. Nun, wenigstens gab er sich Mühe.“

Dank der Naturgewalten wurde der komplette Wald überspült. Aufgeweichte Trails, umgestützte Bäume inklusive Astgewirr und einem längeren Abschnitt mit bis zu 2 Meter tiefen Rissen im Boden, erforderten ein gewisses Maß an Konzentration.

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(c) Bert Kirchner

Um etwa 16 Uhr versammelten wir uns zum Briefing. Ab da musste jeder selbst die Zeit im Blick behalten, denn um 17 Uhr wurde einfach gestartet, ganz ohne Knall oder sonstigem Tamtam. Es gab keine Startlinie und auch keinen Aufruf. Entweder man war da oder man war es nicht.

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Bert ist startklar!

In der Dämmerung standen wir fröstelnd vor der Herberge. Handschuhe, Armlinge und Windweste waren meiner Meinung nach eine gute Idee. Die Lampe befand sich bereits auf dem Kopf, die zwei Tracks des KiLL auf der Uhr. Um etwa 17 Uhr erreichte ein leicht genervtes „Jetzt haut schon ab!“ unsere Ohren. Alle liefen leicht verhalten los, ich mitten drin in der Spitze. „500 Euro, wenn du vor Roman im Ziel bist!“ Haha. Der Weg gabelte sich und schon ging es durch Gestrüpp auf den ersten Trail und für mich gab es den ersten nassen Fuß, dank des Schlamms, der uns für die restlichen 79km stets treu begleiten würde.

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(c) Bert Kirchner

Es fühlte sich schon zu diesem Zeitpunkt verdammt anstrengend an. Ständig musste ich die Füße lupfen, im Zickzack rennen, mich auf dem Schlick austarieren oder wie ein Reh über Äste hüpfen. Spätestens als wir in die Felder kamen, konnte ich wieder entspannen und meinen Rhythmus finden. Das Feld hatte sich vorn in exakt 3 Gruppen, mit je drei Läufern geteilt. Ich befand mich in der Dritten, war jedoch recht unsicher, wie lange ich noch in Begleitung sein würde. Spätestens nach dem dritten Hügel taten wir es den Führenden gleich und verfielen in einen schnellen Wanderschritt, um die Beine zu schonen. Ab diesem Moment löste sich jedoch der dritte Mann unseres Gespanns und das war der Punkt, an welchem wir zu zweit unser Ding machen würden. Trotzdem hatte ich irgendwie das Gefühl, dass wir mit einem 5er Schnitt leicht zu schnell für den Anfang waren. Ich konnte es aber auch irgendwie nicht ändern, da ich mich eingerollt hatte, wir plauschend die Kilometer hinter uns brachten und es einfach nur lief. Ich hatte ein verdammt gutes Gefühl, fürchtete aber auch die Nacht vor Konzentrationseinbußen und der blanken Müdigkeit.

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(c) Bert Kirchner

Vom Feld ging es wieder in den Wald und ich wurde das erste Mal mit den angekündigten Markierungen konfrontiert: kleine Reflektoren an Bäumen oder Sträuchern zeigten die Richtung an, aber eben auch nicht immer. Es war ein entscheidender Vorteil den Track auf der Karte oder der Uhr zu haben. Anfangs liefen wir noch öfter in die falsche Richtung. Selbst Georg kam uns nach etwa 12km plötzlich aus einer völlig anderen Richtung wieder entgegen, gab Gas, überholte und wurde von der Dunkelheit geschluckt. Es schien also wohl auch nichts zu helfen, wenn man schon mehrmals dort gestartet ist.

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(c) Bert Kirchner

„Schlingel-Schlangel-Wege“ (danke Bert für diesen großartigen Ausdruck!) ließen uns immer mal wieder die Konkurrenz wie Glühwürmchen durch die Bäume sehen. Weiter entfernt hinter uns, sah ich auch mal etwas blitzen. Die Lampen erweckten den Eindruck, dass es sich um sehr viele Läufer handeln musste, doch das war wortwörtlich nur ein Schein. Mir fiel auf, dass mein Begleiter Thomas und ich nicht nur die gleichen Stirnlampen, sondern auch die gleichen Schuhe trugen. So schweiften unsere Gespräche über Schuhe, Ausrüstung bis hin zu weiteren Ultras die man mal gelaufen haben sollte, oder auch nicht. Wir hatten unsere Leuchten auf ein für die Augen angenehmes Maß an Lumen gedimmt – am Himmel der helle und sehr nah erscheinende Vollmond, der so zumindest die Umrisse des Waldes sichtbar werden ließ. Den Fokus machten jedoch die Lampen die uns bis zu drei Metern voraus den Weg wiesen. Mal lief Thomas vorn, mal ich. Das Tempo passte und ich hatte endlich mal einen Laufpartner gefunden, der die ganzen Stunden über an meiner Seite blieb. Andernfalls hätte die Sache anders ausgesehen: ich hätte mich die ganze Nacht alleine zwischen Reflektoren und möglichen Trampelpfaden abmühen müssen. Die Abstände zwischen den Führenden und den Läufern hinter uns wurde immer größer, sodass man das Gefühl hatte man sei auf sich allein gestellt.

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(c) Bert Kirchner

Manchmal führte der Track einfach ins Gestrüpp. Off-Trail, kein Pfad erkennbar. Brennnesseln, Dornen und ein Haufen umgestürzte Bäume erledigten den Rest und verlangsamten das Tempo auf ein Minimum. Ob ich eine Zielzeit hätte. Nunja, nicht wirklich. Woher sollte ich auch wissen, was auf 80km mittlerweile machbar war?

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(c) Bert Kirchner

Schnell kam der Tosmarer Kamm und fast genauso schnell fanden wir uns im Downhill wieder, den man teilweise ohne Zutun einfach herunterrutschen konnte. Kurz fing ein Knie wieder an zu zicken, aber das war wohl einfach nur gerade aufgewacht und war dann auch wieder still, als es kapiert hatte, was der restliche Körper und ich vor hatten.

19km im Kasten, sie waren einfach so verpufft und wir fielen an die erste mini-VP ein. Ich musste bereits Wasser nachfüllen, denn ich hatte unglaublichen Durst und hing ständig an den Softflasks, die zu dieser Zeit schon wieder fast leer waren. Mit etwa 9 Grad war es eigentlich nicht so warm, dass man so schnell einen ganzen Liter hätte wegziehen müssen. „Vor euch sind nur 7 Läufer, das ist super!“

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(c) Bert Kirchner

Den nächsten Berg hinter der VP gingen wir wieder zügig und liefen an der Kuppe wieder an. Diese Vernunft die ich da an den Tag legte, war mir fast ein bisschen unheimlich, denn all die Anstiege waren solche, die ich gewohnt war im Training einfach durchzurennen.

25km. „Wann isst du eigentlich mal was?“ Das war eine sehr gute Frage. Ich hatte mir vor dem Lauf einen Haufen Reis hineingedrückt, der mir das Gefühl gab, ich sei unsterblich. Dafür war das Wasser wieder knapp. Ich rechnete nach 27km mit der nächsten VP, das war aber ein Trugschluss. Auf einem schlammigen, mit Laub bedeckten Trail kam es dann auch noch zu meinem Worst-Case-Szenario: ein dünner Ast verfing sich in der Schnür-Schlaufe meines Schuhs – ich strauchelte, fing mich aber im letzten Moment und durfte dann gefühlte Minuten damit verbringen, den Ast wieder herauszufriemeln. Währenddessen überholte uns schon jemand, bis ich auf die Idee kam mal einen Handschuh auszuziehen.

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(c) Bert Kirchner

Wieder im freien Feld sah ich in der Ferne ein Dorf und dazwischen immer wieder Stirnlampen aufblinken. Ich merkte deutlich, dass ich Wasser und eine VP brauchte. Dort hatte ich mir nämlich das Hydrogel von Maurten deponieren lassen. Mir war leicht übel und plötzlich verließ mich von einer Sekunde auf die andere die Kraft. Der Wind peitschte um unsere Ohren, ich wurde still, hängte mich hinter Thomas, während unsere Füße durch matschige Wiesenwege patschten. Verzweiflung kam auf, das Atmen wurde angestrengt und ich wäre am liebsten einfach nur noch spaziert. Ganz schlimm wurde es, als meine Uhr 30 Kilometer anzeigte, aber noch immer keine VP in Sicht war. Es trat genau das ein, wovor ich immer Respekt und Angst habe: ein so tiefes Loch, aus dem man glaubt nie wieder herauszufinden, inklusive schmerzender Beine. Nach weiteren Minuten schaffte ich es, ein paar Koffein-Gummibärchen aus meinem Rucksack zu fischen, die mich ein klein wenig retteten. Als ich kurz davor war, nach einem Riegel zu greifen, sah ich plötzlich nach 33km die VP. Kippte das Hydrogel herunter, ließ die Softflasks auffüllen, vergriff mich an Brot und Schokolade und merkte richtig, wie die Energie zu mir zurückkehrte und die Beine wieder locker wurden. Gleichzeitig war das auch ein großer Aha-Effekt. Ich hätte bei meinen letzten Ultras wahrscheinlich nie so leiden müssen.

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(c) Bert Kirchner

„Wie weit ist Georg vor uns?“
„Genau 60min“
„Ich hab‘ gehört du gewinnst heute?“
„Es kann noch alles passieren…“

Ich erwartete sowieso die ganze Zeit über, dass plötzlich irgendeine der Frauen hinter mir auftauchte. So richtig sicher fühlte ich mich zu keiner Zeit, aber von Panik war ich dennoch weit entfernt. Das Tempo einfach zu halten stand auf meiner To do Liste ganz oben.

Es dauerte zwar noch etwa fast eine Stunde, bis ich mich wieder vollends wohlfühlte, aber es war alles soweit gut, dass ich locker weiterlaufen konnte. Wir erwarteten zudem mit Spannung die groß angekündigten Meter-tiefen Risse im Boden, die bei Kilometer 40 kommen sollten. Wir sahen aber keine. In meinem Kopf stellte ich mir vor, wie wir einfach hinein fielen, weil sie anscheinend sehr unauffällig waren. Nach 44km schlossen hinter uns zwei weitere Läufer auf und genau in diesem Moment tat sich vor uns buchstäblich die Erde auf, wie nach einem Erdbeben, war der Pfad einfach gespalten, sodass wir auf die andere Seite springen mussten, um dann den langen Anstieg der Wettenser Schlei in Angriff zu nehmen. Alle machten erstmal Ahhh und Ohhh. Neben uns die Risse, während wir uns am Rand über lose Steine nach oben schraubten.

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(c) Bert Kirchner

Nach einiger Zeit überholten wir die beiden Läufer wieder, denn einer saß auf einem umgestürzten Baumstamm mit einem Wadenkrampf, wollte aber auch keine Salztabletten annehmen.

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(c) Bert Kirchner

Ich war immer noch guter Dinge, das Höhenprofil auf meiner Uhr und ich, waren mittlerweile ebenfalls ein eingespieltes Team, die Orientierung funktionierte bei Thomas und mir nun auch nahezu reibungslos und wir konnten uns auf den Punkt genau zwischen Gehen und Rennen abstimmen. In meinem Kopf war das Zwischenziel der 50km total präsent, denn bei 50,51km gab es die dritte VP in der Kulturherberge und ab da musste man den zweiten Track starten um die letzte 30km Schleife zu laufen. Ich war vollkommen zeitlos und mittlerweile nur noch im Trailtunnel. Ich zählte die Höhenmeter rückwärts und wertete diese Fähigkeit als gutes Zeichen, dass mit mir doch noch einiges stimmte 😉

Ein wunderbares Gefühl, wenn man nicht allzu weit entfernt die Lichter der Herberge sieht und weiß, dass man sich ein trockenes Shirt anziehen kann und weit mehr als die Hälfte hinter sich gelassen hat. Zudem hatte ich keine muskulären Probleme und hatte was das Essen betraf die Eichhörnchen- und Hamster-Taktik aufgefahren. Wenn es sein musste, hatte ich den Haferriegel bis zu einer Stunde in meiner Hand und eigentlich ununterbrochen ein Stück davon in der Backe, denn mir war entweder schlecht, weil das Stück zu groß war oder weil ich zu wenig Energie hatte. Dank Maurten brauchte ich keine einzige Salztablette und auch meine Finger waren nicht ansatzweise geschwollen.

Wir rannten die Einfahrt zur Herberge, sprangen die Stufen nach oben und wurden im Inneren vom Racedirektor begrüßt: „Ihr seid ja immer noch da! Ich hole euch dann später im Wald ab…“

Akkus wurden gewechselt, ich kippte das zweite Hydrogel hinunter und warf das erste Mal einen Blick auf meine Schuhe: meine Füße waren eigentlich von einem einzigen Klumpen Dreck umschlossen. Also ganz so wie sich das gehörte. Ich starte den zweiten Track, nahm einen Riegel in die Hand, den ich beim Loslaufen direkt essen wollte, zog die Handschuhe an und wir waren wieder unterwegs.

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(c) Bert Kirchner

Etwa fünf Kilometer später bemerkte ich, dass ich den Riegel in der Herberge vergessen hatte. Ich griff hinter mich in den Rucksack und fühlte genau nur noch einen Riegel. Einer für 30km und bloß ein paar Gummibärchen… Umdrehen war ausgeschlossen. Jetzt war haushalten angesagt, irgendwie musste das zu machen sein. Nach noch nicht einmal zehn Kilometern und dem ersten Berg wurde mir wieder übel. Also fing ich den Riegel an vorsichtig anzuknabbern. Downhill wurden meine Beine plötzlich etwas maulig, rollten sich aber bald wieder ein. Dennoch ließ meine Konzentration kaum nach, obwohl es mittlerweile auf 1 Uhr zuging und wir nur so durch Wildschwein-Suhle rutschten oder Wadentief darin versanken. Manchmal sah man es auch nicht, weil das Laub tückisch darüber lag. Immer wieder stolperte einer von uns, Stürze gab es jedoch keine. Der zweite Teil war noch schlammiger als der erste und oft musste man sich den Weg durch die Offtrails irgendwie selbst bahnen. Das Highlight waren vier dicke Baumstämme auf einem Haufen. Kleine Mobilisation der müden Knochen.

Ich zählte die verbleibenden Anstiege, überschlug Kilometer, teilte in meinem Kopf alles in Etappen ein. Wir liefen schweigend aber stetig und ich hörte zeitweise ganz mit dem Denken auf, sah nur die Beine von Thomas vor mir im Schein unserer Stirnlampen, immer ein Fuß vor den anderen, scheinbar unermüdlich.

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(c) Bert Kirchner

Nach über 60km sank mein Energielevel ein weiteres Stück und ich konnte kaum dagegen halten. Von den Gummibärchen wurde mir mittlerweile postwendend schlecht und mir blieb nur der Haferriegel, der in meiner linken Hand schon ganz warm geworden war. Ich sagte jedoch nichts. Generell wollte ich einfach laufen ohne zu jammern. Leise heulen und niemanden nerven. Ich erwischte mich immer mal wieder kurz dabei, wie ich bei kleinsten Hügeln in den Wanderschritt fiel, aber Thomas‘ Anwesenheit und sein gleichmäßiger Rhythmus ließen mich dranbleiben, wofür ich selbst in dieser Situation unglaublich dankbar war.

Noch drei Berge und 600 Höhenmeter. Einmal Feldberg hoch. Nur noch 400. Nur noch 15 Kilometer und ein kleines Hoch aufgrund dieser Tatsache. Endlich Zahlen die man einschätzen konnte. Nach einer steilen sehr nassen Wiese, verließ mich dann plötzlich meine Garmin. Sie zeigte nur noch das Logo an und sonst erstmal lange nichts mehr. Es half alles nichts, wir rannten weiter und nun fehlt halt ein bisschen was vom Track, weshalb auf Strava auch keine runden 80km stehen.

Plötzlich fing sie sich aber wieder und es gab wieder einen Off-Trail, den wir fast nicht gewagt hätten einzuschlagen, einfach, weil es wieder nur Gestrüpp war. Jedoch lag hinter diesem Gestrüpp eine Kiste, die mir zunächst in meiner geistigen Umnachtung total suspekt vorkam. Dann kamen wir aber doch auf die Idee diese zu öffnen und wir beide brüllten zeitgleich einfach nur „Colaaa!“ Und mussten uns dann selbst darüber amüsieren.

Ich auf Cola ist in etwa so wie man sich einen Kanarienvogel auf Koks vorstellen würde. Daher fange ich mit sowas auch eher spät im Rennen an, zumal nach so einem Hoch meistens ein ekliges Tief folgt. Vor allem, wenn man nur noch weniger als einen halben Riegel zur Verfügung hat.

Es folgte eine weitere Rampe, die mir merklich Körner stahl. Der Riegel wurde noch kleiner und ich musste noch zwei Anstiege überleben. Gas geben war deshalb nicht mehr machbar. Nach der Rampe eröffnete sich uns wieder das Feld und wir trabten wieder an. Es war ganz still, der Vollmond schien zum Greifen nahe. Ich rechnete immer noch die Kilometer herunter. Nur noch 9. Plötzlich tauchte eine Stirnlampe vor uns auf. Wir zogen gleich und trafen auf Michael, der zuvor in der führenden Truppe mitgelaufen war, sich übergeben hatte und bei unserer Begegnung mehr tot als lebendig aussah, wahrscheinlich auch frustriert. Selbst wandernd überholten wir ihn am nächsten Anstieg. Ultras sind halt doch nicht immer Kindergeburtstage…

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(c) Bert Kirchner

„Wir sind bald im Sack!“, rief Thomas mir zu, als wir uns erneut über einen schmalen Singletrail schlängelten. „Ich bin’s schon…!“ Immer schön, wenn die Ortschaften die passenden Namen tragen.

5km. Ich äußerte, dies sei ja eigentlich ein Witz. Aber ich war von solcher Kraftlosigkeit, dass es einfach nur hart war. Der Kopf erledigte den Rest. Ich versuchte die sich ankündigende Scheiß-egal-wir-wandern-jetzt-einfach-nur-noch-Haltung abzuwehren, sodass wir in Sack nochmal beschleunigen konnten, ehe es zum letzten ewigen Anstieg über die Felder kam. Ich hatte das letzte Stück des Riegel in der Backe und versuchte mir krümelweise Energie zuzuführen.

2km. Es ging immer noch hinauf. Dann lief ich an. „Neee, nicht dein Ernst!“ „Doch, auf jetzt!“ Also liefen wir, irgendwie, diesen Berg hinauf. Schweigend, etwas schwer atmend, den Blick zum Horizont gerichtet. Und auch auf die Uhr. Ich wusste, wir müssen laufen um unter 10 Stunden zu bleiben. Aber es zog sich. Laufen, gehen, wieder laufen. Erst 500m vor dem Ziel war ich mir tatsächlich um meine Platzierung sicher. Immer erwartete ich, es würde nochmal jemand neben wir auftauchen. Ich wollte es nur noch vorbei wissen. Endlich über der Kuppe, auf dem letzten schlammigen Pfad zur erleuchteten Herberge, während uns die dort Anwesenden durch die Scheiben bereits beobachten konnten. Ich zog nochmal an und ich war wahnsinnig froh.

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Thomas und ich

Wir sprangen die Stufen nach oben, ich öffnete die Tür, während uns alle beklatschten. Ich sank auf die Stufen. Ich war da, es war vorbei. Vorbei für die Ultras in 2017. Dazu ein Doppelsieg: Georg hatte sich unterwegs gut über mein Abbleiben informiert und sich daraufhin entschieden erst recht Gas zu geben. Sieg für ihn in 8:12h und für mich in 10:02h. Da sieht man mal wieder, dass der Taunus eben rockt!

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…wenn alles was man möchte einfach nur Tee ist

Thomas und ich liefen als 6. und 7. Läufer in der Gesamtwertung ein und daher gab es für uns auch noch das Vorrecht mit heißem Wasser duschen zu dürfen 😉 Der Oberkracher war folgender: als ich den Rucksack abnahm, spürte ich in einer der vorderen Taschen einen Riegel. Ich war also die ganze Zeit mit Riegel gelaufen, obwohl ich es die meiste Zeit gewusst hatte! Da sieht man mal wie blöd Laktat macht!

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Alles in allem ein gefühlt doch recht kurzweiliger Lauf, mit coolen, lustigen Leuten, toller Organisation im mehr als familiären Ambiente. Wäre mir danach nicht so schlecht gewesen, hätte ich nach dem Lauf und beim Frühstück das Buffet wohl mehr geplündert – denn die Auswahl war echt riesig. Nudeln um 4:40h waren jedoch das höchste der Gefühle. Für ein bis zwei Stunden konnten wir in den Zimmern der Herberge mal kurz die Augen zumachen, bis es um 8 Uhr morgens Zeit für die Siegerehrung war. Als ich mich jedoch einmal zuviel umdrehte, krachte plötzlich das Bett unter mir zusammen, sodass ich fast gleichzeitig lachte und heulte.

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Platt!

Die Siegerehrung selbst ist natürlich auch anders als die anderen: während des Rennens schleift man eine Dog-Tag mit sich mit, auf der der Name eingraviert ist. Bei einem DNF wird die Hälfte davon an ein Skelett gehängt. Alle DNF’ler werden natürlich nochmal namentlich genannt und dürfen sich ihre „Prüfung-nicht-bestanden“-Urkunde abholen.

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Georg und ich gingen mit einem Wildschweinschädel und -Zahn mit eingebrannten Zielzeiten, sowie selbst gebrannten Schnaps nach Hause. Definitiv origineller als jeder Pokal bei einem Straßenlauf!

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Für mehr Infos über diesen und weitere Läufe, besucht ihr einfach diese Webseite: http://indie-trail.de

— Jamie

5 Gedanken zu “KiLL50 – Kein schöner Landschaftslauf 4. und 5.11.2017

  1. Liebe Jamie,
    Gratulation zum Sieg und v.a. zum Finish, grandioser Bericht über einen gnadenlosen Nacht–Ultra. Aber Du hast Deinen Humor behalten:

    Ich auf Cola ist in etwa so wie man sich einen Kanarienvogel auf Koks vorstellen würde

    Bei dem Satz habe ich mir fast in die Hosen gemacht 🤣

    Salut und erhol Dich gut

    1. Hi Christian,
      lieben Dank! Ich hatte mir das lange-Laufen bei Nacht jedoch im Vorfeld viel problematischer vorgestellt, doch das war es dann zum Glück doch nicht. Ohne Humor wäre diese Lauferei einfach nur halb so toll 😀 Ich hoffe die Hosen sind wieder getrocknet.. 😉

      LG,
      Jamie (die überraschenderweise schon nach zwei Tagen wieder die Laufschuhe schnüren konnte)

  2. Auch ich musste schmunzeln und habe etwas mitgelitten! Respekt für diese Leistung, jetzt haste hoffentlich gut regeneriert und darfst dann nächstes Jahr wieder voll durchstarten!

    1. Hihi, schön dass ich dich mitnehmen konnte 😀 Und danke! Mir ging es sehr schnell wieder gut, was bleibt ist halt immer diese Grundmüdigkeit nach Ultras, aber die wird einfach rausgeschlafen 😉

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