Another one bites the dust (27.06.-29.06.2018)

Es ist Freitagvormittag und wir sitzen im Auto, zu einem Kurztrip der besonderen Art. Unser Ziel? Belgien. Im Kofferraum und auf der Rückbank befindet sich gefühlt alles, was man als Läufer eben so braucht: Schuhe für eine ganze Familie, Klamotten für mindestens drei Wochen und ein 20 Euro-Zelt, das eigentlich für eine Übernachtungsparty von zwei 10-jährigen taugen sollte. Wie konnte es auch anders sein, sind Georg und ich mal wieder auf dem Weg zu einer Laufveranstaltung. Jedoch nicht zu irgendeiner. Perverse Ultras gibt es mittlerweile wie Sand am Meer, oder eben 6 oder 24 Stunden Läufe.

„Another one bites the dust“ fällt in die Kategorie „Last man standing“: wer bis zum bitteren Ende läuft, gewinnt, alle anderen werden mit einem DNF gewertet. Wie viele Runden und Tage das beinhaltet, weiß vorher keiner. Was wir jedoch relativ schnell feststellen ist, dass die Belgier gerüstet sind. Notfalls würde man auch eine Woche dort überleben, vorausgesetzt man betrachtet Bier und Zigaretten als Grundnahrungsmittel.

Wir sind am Arsch der Welt. Neben mir zieht ein kleines Backsteinhaus nach dem anderen vorbei. Die Klimaanlage ist kaputt, ich bin jetzt schon durchgeschwitzt. Das Navi leitet uns in einen kleinen Pfad und wenig später parken wir auf einer Pferdekoppel, die als Parkplatz ausgewiesen ist.

Ich schleppe meine Trailkiste, Schlafsack und Klappstuhl zum Austragungsort, begleitet von einer trockenen Staubwolke, während die Sonne hoch über uns steht und unsere Körper grillt. Diese Hitze ist definitiv nicht meine bevorzugte Lauftemperatur, aber ich tröste mich damit, dass der Startschuss erst um 20 Uhr fällt. Viel größere Sorgen machen mir da meine Beine, die sich trotz Tapering, noch immer nicht ganz so frisch anfühlen und durch die Fahrt stocksteif geworden sind. Georg stimmt mit ein, denn auch er hat zerschossene Beine vom letzten Traillauf. Also im Prinzip alles wie immer bei uns.

„Nach 60km wird alles besser!“
Ich lache bei der Vorstellung, dass danach alles besser werden sollte. Wir erreichen Stef und sein Team – er begrüßt uns lachend mit einer Bierflasche in der Hand. Ich merke schnell, hier ist alles locker. Keiner nimmt sich selbst ernst und irgendwie ist jeder in Partylaune. Mit Kreide verewigen wir unsere Namen auf der Startertafel. Steigt ein Läufer aus, so muss er seinen Namen durchstreichen.

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(c) Legends Trails

Wir schlagen unser Mini-Zelt auf und ich flüchte mit mit meiner Kiste unter ein Pavillon in den Schatten, damit mir meine 700 Gramm Reis nicht umkippen. Da ich herausgefunden habe, dass ich während längeren Rennen gar nicht mehr so auf Riegel stehe wie im Training, habe ich mir einfach einen großen Topf Reis mit Salz gekocht und diesen in Ziplocs portioniert. Daneben hatte ich drei Packs Maurten dabei, sowie eine leere Softflask. Wegen der Temperaturen wollte ich auf den Rucksack verzichten. Eigentlich war der sowieso nicht nötig, da der Lauf Rundenbasiert ist und wir somit immer wieder nachfüllen und etwas essen können würden.

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Das Zeitlimit für eine Runde ist auf eine Stunde gesetzt. Klingt nach massig Zeit, hat aber das Potenzial immer kurzweiliger zu werden. Während wir uns einrichten, wird das Camp auf der Wiese aufgebaut. Mit der Zeit trudeln immer mehr Läufer ein. Wir machen währenddessen einen Supermarkt ausfindig und laden nochmal ordentlich Kohlenhydrate nach. Im Schatten inklusive Wind kühle ich wieder ein wenig herunter und dämmere schließlich auf einer kratzigen Filzdecke nochmal weg.

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Ruck zuck ist es nur noch eine Stunde bis zum Start, aber das beeindruckt hier gar keinen. Wer hier Läufer ist oder nicht, wird nicht ganz klar. Es bleibt schwierig, unter den schlurfenden, Bier trinkenden und extrem entspannten Menschen in Alltagskleidung, den typischen Läufer auszumachen. Fast schon peinlich berührt, fange ich ganz langsam an mich umzuziehen. Da ich nicht weiß, was uns erwartet, ziehe ich meine Trailschuhe an und schmiere jegliche Haut, die mit Nähten in Berührung kommt, mit BodyGlide ein. Wir treffen auf Donald (Don Downhill) und auf Patrick, der zunächst mich erkennt, denn er ist vor einem Jahr mal bei einem OCR Trail mitgelaufen. Daneben lerne ich auch Maiken und Michael kennen – so wenig Deutsche sind wir also doch nicht.

Stef kommt vorbei geschlendert und ich bin sicher, es ist nicht das Bier von vor ein paar Stunden, was er da in der Hand hält: „I have to ask how many laps you plan, so I can push you to go to the limit“
Während ich noch überlege, macht Georg deutlich, dass es zwei, aber auch 40 Runden werden können. Ich bleibe etwas bescheidener und lasse 20 Runden notieren. Ein schöner Ansporn, um endlich mal über die 100km-Marke zu kommen.

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(c) Legends Trail

„BBQ at lap 3 or 4, eggs and bacon in the morning!“
Wir versammeln uns in der Starterbox, abgesperrt mit rot weißem Flatterband. Man gönnt uns den Umstand, ab diesem Zeitpunkt jedes Mal unter dem Band hindurchschlüpfen zu müssen. Wer nicht auf die Sekunde genau zur vollen Stunde in der Box steht, ist raus. Wir werden ebenfalls darüber unterrichtet, dass diese Veranstaltung nur zur persönlichen Belustigung des Racedirectors stattfindet. Idioten die Tag und Nacht eine vordefinierte Runde im Kreis rennen und dabei etwa alle zwei Stunden gefühlt um 5 Jahre altern… erscheint mir selbst plausibel. Neben mir steht der ein oder andere und raucht relaxed seine Zigarette zu Ende.

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(c) Legends Trail

Irgendwer zählt von 10 rückwärts und es geht einfach los. Aus Respekt vor dem was vor mir liegt, sehe ich davon ab loszustürmen. Nur zwei oder drei tun das – darunter der Vorjahressieger. Georg und ich schauen uns an und zucken mit den Schultern. Es geht rechts leicht hoch, vorbei am Parkplatz, begleitet von einer Staubwolke und einer schnatternden Läuferschar mit meist undefinierbaren Wortfetzen zwischen Französisch, Belgisch und Englisch. Nach der Staubwolke wird es etwas steiler und wir laufen kurz eine Straße hinauf, um links auf einen Feldweg zu verschwinden, wo es direkt wieder flacher wird. Kleine gelbe Schilder markieren die Runde.

Wir befinden uns im vorderen Drittel, sprechen darüber, dass wir vielleicht besser dran sind, wenn wir versuchen ein paar Runden langsamer zu laufen. Ich für meinen Teil, will einfach die Strecke sehen und bin daher noch nicht ganz so tiefen-entspannt. Vor allem der angekündigte Schwebebalken, bereitet mir leichte Bauchschmerzen, da ich schon auf einer Tapezierleiter Höhenangst bekomme. Dazu musste ich aber erstmal über Kilometer 5 kommen – das beste zum Schluss oder so.

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(c) Mervyn van Gompel

Nach dem Feldweg biegen wir auf die ersten Trails ein. Es geht einen sehr schmalen Wiesenpfad entlang. Er ist sehr holprig und begrenzt durch einen zu uns geneigten Stacheldrahtzaun zur linken Hand und eine Menge Gestrüpp mit Brennnesseln zu unserer rechten. Den Kopf ausmachen ist hier nicht und ich spüre, dass das auf die Dauer ermüdend sein könnte. Ein Brückchen und ein paar Trampelpfade später werden wir wieder im Feld ausgespuckt. Ab hier geht es über Kopfsteinpflaster weiter, welches nicht wirklich konsequent verlegt wurde. Eine vertrocknete Grasnarbe ziert die Wegesmitte und es liegen ein paar Stöckchen herum. Im Zickzack laufen wir diese Passage, bevor es nach einer Kurve einen leichten Anstieg hinauf geht. Nach noch mehr Staub und Steinchen sehe ich schon den Waldrand. Ich beginne über meine Schuhwahl nachzudenken: einerseits sind die Dynafit einfach nur bequem, andererseits vermisse ich die Flexibilität, wenn wir mal keinen Trail unter den Füßen haben.

Als wir die ersten Bäume erreichen, wird mir bewusst, dass das der erste Streckenabschnitt nach knapp 3 Kilometern ist, der uns am nächsten Tag noch einmal Schatten spenden würde. Dabei ist es jetzt schon sehr sehr warm. Georg spielt den Wasserträger mit Handbottle, so kann ich meinen Rucksack im Camp lassen, denn es ist einfach zu heiß für eine „Wärmflasche“ auf dem Rücken. Wir analysieren die Strecke, versuchen uns Wegpunkte zu setzen, schauen immer wieder auf die Uhr, um ein Gefühl für Zeit und Distanz zu bekommen. Wann sind wir an welcher Stelle und wie viel Zeit brauchen wir dafür?

Über einen zerfurchten Weg erreichen wir wieder einen schmalen Trail. Links und rechts von uns ist alles zugewuchert, ein paar Brennnesseln strecken ihre Glieder Richtung Pfad und streifen immer wieder meine Knie. Es ist leicht holprig und sehr kurvig, überholen oder überholt werden ist hier nicht. Also laufen wir in Reih und Glied einfach minimal bergan immer weiter. So besonders eilig haben es hier sowieso die wenigsten. Auf die kleinen gelben Schilder müssen wir uns hier noch konzentrieren, um nicht irgendwo falsch abzubiegen. Dann wird es wieder heller und wir laufen erneut einen Zaun am Waldrand entlang. Der Trail wird wurzeliger und teilweise sogar recht tückisch uneben. Georg fällt schon mal über seine eigenen Füße und ich mache gedanklich Notizen.

Wir treffen wieder auf einen Wiesentrail, der immer weiter ansteigt und ganz schön viele Löcher birgt, die man natürlich nicht sieht. Meine Knöchel sind ganz schön gefordert und ich verschwende den ersten Gedanken daran, wie das bitte nachts werden soll. Die Wiese mündet auf sowas wie Schotter in allen Variationen und führt uns den ersten nennenswerten Anstieg hinauf, bei dem wahrscheinlich so gut wie alle Höhenmeter gesammelt werden, die es zu verzeichnen gibt. Das erste Mal fangen wir an zu gehen. Die Frage ist hier nicht, wie man möglichst schnell die Runde erledigt, sondern eher, wie man sie möglichst lang gestaltet um nicht 20 bis 30 Minuten lang wieder im Camp zu stehen, auszukühlen und zu viel Zeit zum Nachdenken zu haben. Wir kommen oben an, ein Pfeil führt uns nach links durch ein Dorf die Straße hinunter. 30min sind vergangen. Fuß trifft auf Asphalt. Ich bin mir fast sicher, dass dieser Abschnitt irgendwann ganz schön weh tun könnte, zumal es sehr schwierig ist zu bremsen. Die Tatsache, dass man allein für 60km 10 Stunden unterwegs bzw. auf den Beinen sein muss, sorgt jedoch dafür, dass ich es nicht übertreibe. Vor allem dann nicht, als ich sehe, das einige Personen diesen Abschnitt schon jetzt gehen.

Die Anwohner stehen vor ihren Backsteinhäusern und lachen und klatschen uns zu. Wieder andere sitzen in Klappstühlen am Straßenrand und jubeln in unsere Richtung. Endlich passiert hier mal was. Selbst das Pferd 200 Meter weiter, erscheint mir irgendwie viel zu interessiert. Vorbei an einem Maisfeld, geht es wieder um eine scharfe Linkskurve in den Wald, auf den Trail. Unter uns tut sich wieder ein holpriges Vergnügen über Gräser, Steinchen, Stöckchen und einem schiefen Untergrund auf, den man natürlich nicht direkt sieht. Bei jedem dritten Schritt kippt der Fuß unschön nach links oder rechts, was uns im Zickzack laufen lässt. Es wird Zeit, dass wir in den nächsten Runden eine perfekte „Line“ finden, denn mir kommt es jetzt schon furchtbar nervig vor.

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(c) Mervyn van Gompel

Die Pfeile schicken uns wieder nach rechts aus dem Wald heraus. Der Pfad wird immer enger und mir wird bewusst, dass jetzt der berühmt berüchtigte Schwebebalken seinen großen Auftritt hat. Der übrigens ein Grund (aber kein Hindernis) dafür war, dass ich bei meiner Anmeldung zunächst gezögert habe. Ich schicke Georg vor, als der Pfad zu eng wird und Schilfgräser unsere Waden umschlingen. Drei Schritte weiter stehen wir vor einem massiven Balken, dessen Ursprung nicht gleich ganz so klar wird, weil er auf den ersten Blick noch eins mit dem Pfad ist. Georg macht zwei Schritte auf dem Balken, rutscht kurz ab, fängt sich aber nochmal. Unter uns ist ein kleines Gewässer, in welches ich nur ungern hineinfallen möchte. Ich konzentrierte mich auf das Ende des Balkens, welches breiter als vermutet ist. Dafür übersehe ich, wie verdammt schmal der erste Teil eigentlich ist und schwanke mit Herzklopfen bis zur Mitte und greife nach Georgs Arm, um dann mit drei größeren Schritten den Balken zu verlassen und nach oben wieder auf den Weg zu steigen. Ja, ich bin ein Schisser. Ich verliere regelmäßig meine Körperbeherrschung, wenn ich mich einen halben Meter über dem Boden befinde und werde zum Körperklaus. Die Aussicht weit mehr als 50km zu laufen, lässt mich dann aber auch solche Sachen bezwingen. Zumindest habe ich in diesem Fall die Hoffnung, dass irgendwann einfach die Gewöhnung eintritt und ich Elfengleich über den Tümpel schwebe.

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(c) Mervyn van Gompel

Mit zitternden Beinen stehe ich auf dem Weg und wir laufen weiter bis zum Feldrand. Wir haben 38 Minuten hinter uns und bis ins Camp ist es nur noch ein Kilometer. Daher entscheiden wir uns zu gehen. Locker plaudernd gehen wir über den holprigen Acker – insgesamt sind es drei – dann erreichen wir wieder eine Art Schotterweg, welcher uns direkt zum Camp führt. Meine Uhr zeigt 46min und 6,5km. Die offiziellen 5.95km stimmen nicht und ich frage nach. Meine Uhr lügt nicht, inoffiziell laufen wir einen halben Kilometer mehr. Das rechnet sich dann schon, vor allem in den Runden. Man muss also allein schon 17 Runden laufen, um auf offizielle 101,15km zu kommen. Inoffiziell war man dann einfach schon eine Runde davor über der magischen Grenze. Wenn ich 120km laufen wollte, wären es auf der Uhr 130km gewesen. Ihr versteht die Diskrepanz. Ich habe dann nur noch auf meine Uhr gesehen und meinen Beinen vertraut, die mir schon sagen, wie das mit der Masse an Kilometern ist.

Ich schlendere zum Pavillon. Dort steht ein Stuhl und ohne nachzudenken, sitze ich. Georg folgt, sitzt neben mir. Essen möchte ich jetzt noch nichts und wir tanken nur Wasser nach, es ist noch ziemlich warm. So langsam geht die Abendstimmung los. Schaffen wir es noch zwei Runden ohne Stirnlampe?

Meine Beine sind immer noch ziemlich steif und ich bekomme ein ungutes Gefühl, dass ich mich eventuell schon früher quälen muss als mir lieb ist. Zum Glück unterbricht meine Gedanken Tims röhrende Stimme: „Five minutes!“ Stef steht grinsend daneben. Wir werden gefragt wie wir die Strecke finden. Verdammt abwechslungsreich! Wir bekommen die Info, dass wir psychisch schon noch zerstört werden. „Two minutes!“ Die meisten versammeln sich bei dieser Ansage schon in der Startbox, viele haben schon wieder Bierflaschen in der Hand. Wo sind wir hier gelandet? „One minute!“

Ich drücke die Lap-Taste meiner Uhr und wir setzen uns in Bewegung. Wir gehen und lassen viele erstmal vorbeiziehen. „Bis zum Auto und dann laufen wir!“ Also rennen wir den Anstieg bis zum Feld und hören auch nicht mehr damit auf. Noch immer laufen wir wunderbar zusammen, selbst unsere Pinkelpausen harmonieren immer mehr. Während sich der eine ins Feld schlägt oder um die Ecke verschwindet, walked der andere einfach zügig weiter. Wir perfektionieren unsere Kategorisierungen der Abschnitte, versehen diese mit Distanz und der Gesamtzeit und versuchen herauszufinden, an welchen Stellen man noch mehr gehen kann (Der Weg vom Start, der kleine Anstieg auf der Wiese, der giftige Anstieg zum Dorf und die Felder zum Camp).

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(c) Donald Schuster

Wir kommen ohne Musik aus. Ich höre Georg neben mir sagen: „Das wird legendär“. Ich hoffe dass er recht hat, denn auch nach Runde 2 sind meine Beine eher steif. Wir legen unsere Sachen für die Nacht zurecht und ich löffle schon mal etwas von meinem Reis in mich hinein. Wir kommen zu dem Schluss, dass wenn wir uns hinsetzen, dabei besser die Beine hochlegen. Ich schmiere diese mit Pferdesalbe ein und hoffe auf Besserung. Es weht ein kühler Wind und nach wenigen Minuten wird mir kalt. Das sind die Nachteile, wenn man nach 46min schon da ist. Langweilig ist es dennoch nie, irgendwas kann man immer rumkruscheln. Und so stehen wir schon wieder in der Startbox. Die meisten haben schon Stirnlampen auf, so auch ich, aber brauchen tun wir sie nur in den dunkelsten Abschnitten des Waldes. Ich merke wie ich im Dämmerlicht etwas weniger trittsicher werde und trete kurz vor dem Anstieg am Dorf in ein gemeines Wiesenloch, welches mir kurz den Fuß umbiegt. Nichts passiert, aber ab jetzt laufen wir einfach konsequent links. Den Schwebebalken meisterte ich jetzt schon etwas besser, solange Georg vor mir läuft. Über das Feld gehen wir lachend Hand in Hand. Wenn schon Trailpärchen, dann wenigstens richtig. Wir fragen uns, ob die anderen uns schon bereits dafür hassen 😀

Spätestens als es richtig dunkel ist (selbst um 23 Uhr war es irgendwie noch hell!) weiß ich nicht mehr, ob mir kalt oder warm ist. Es ist einfach unendlich feucht-kalt und nach einiger Zeit schwül. Der Dunst steigt von den Feldern auf, die Wiesen werden nass und nasser. Meine Schuhe habe ich getauscht, nun sind die Sacuony Kinvara an der Reihe. Meine Füße fühlen sich plötzlich befreiter an, aber zwischen 1 und 2 Uhr bekomme ich ein Tief, ich bin richtig müde und gerade nicht so gut drauf. Ich mute meine Umwelt und starte die Audiodatei mit Helge Schneider, der mich irgendwie wieder auf Touren bringen soll. So kommt es, dass ich öfter laut lachend an anderen verdutzten Gesichtern vorbei laufe. Auf dem Schwebebalken im Dunkeln bekomme ich kurz die Krise, weil ich mit Stirnlampe plötzlich realisiere, dass der Balken doch höher ist, als ich dachte, während Helge irgendetwas von einer öligen Leiche quatscht, die über die Dielen fluppt. Nachts sieht vieles anders aus, und ich brauche etwas, um mir die Abzweigungen wieder neu einzuprägen.

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Inzwischen ist auch das BBQ schon in vollen Gang und auch ein Lagerfeuer knistert gemütlich vor sich hin. Da wir noch immer in exakt 46min wieder am Camp sind, gibt es genug Zeit, um dumme Dinge zu machen. Nachdem ich mir an der öffentlichen Dusche (es steckte einfach eine Duschstange mit Regen- und Handbrause im Rasen) meine klebrigen Arme und Schultern abgewaschen hatte (denn es juckte ständig alles), zog es mich direkt zum Grill. Ich bekam eine große Lust auf etwas richtiges zu Essen, also wurde es ein extrem leckerer Veggie-Burger mit Röstzwiebeln, Salat und Ketchup. Nach noch nicht einmal der Hälfte, hörte ich aus Vernunft einfach auf, denn wir wissen ja, wie mein Magen immer spielt. Dazu bin ich so verdammt müde, dass ich es vorziehe, mich für fünf Minuten in meinen Schlafsack zu legen. Georg’s Stimme und Tim’s „Two minutes!“ reißt mich quasi sofort wieder aus meinem Dämmerschlaf. Mein Kreislauf ist so unten, dass ich anfange zu taumeln und in der Startbox mehr tot als lebendig stehe.

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Eine weitere Runde bricht an und der erste streicht schon seinen Namen von der Tafel, da er umgeknickt war und nichts mehr riskieren wollte – es ist der Vorjahressieger und wir sind erst bei Runde 6. Wir treiben unsere Taktik einfach weiter. Klogänge ereignen sich nur noch selten im Camp und immer öfter auf bzw neben der Strecke. Ich habe das Gefühl wir werden langsamer, stattdessen fängt Georg an mich immer wieder einzubremsen. „Immer, wenn du eine Frau siehst, wirst du schneller!“ Irgendwann merkt aber auch er, dass es nicht mein Ego ist, sondern einfach bestimmte Abschnitte, die ich gerne schneller laufe. Denn es ist nun tatsächlich so, dass sich meine Beine sehr viel besser anfühlen und die Anstrengung des Anfangs weicht. Ich will das alles aber nicht beschreien und sage lieber nichts.

Eine Runde später, esse ich nur zwei Löffel Reis, denn mir ist ziemlich übel geworden beim Laufen. Der Burger führt ein Eigenleben und tanzt Samba in meinem Magen. Energetisch brauche ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich mehr als zwei Löffel Reis und versuche noch schnell ein Maurten zu exen, muss aber fünf Schlucke verbleiben lassen, weil es mir plötzlich hochkommt. Ich spüle meinen Mund mit Wasser aus, und springe schnell in die Startbox und sehe wie die Uhr auf dem Monitor die letzten 30 Sekunden ankündigt.

Ich drücke die Lap-Taste und wir wandern wieder los. Nur irgendwie langsamer als sonst. Ich komme genau sieben Schritte weit und fange an gleichzeitig zu husten und zu würgen und muss am Rand zum Feld gewandt stehen bleiben, während mich alle überholen. Georg bleibt bei mir und schließt sich dem letzten Läufer an. Ich versuche langsam mitzukommen, schaffe es aber nicht. Sind es etwa genau diese Umstände die einen aus dem Rennen werfen? Mir wird heiß und kalt. In meinem Mund ist ein widerlicher Geschmack, den ich nicht loswerde. Ich überlege an einem Grashalm zu kauen, mache es dann aber doch nicht. Zittrig laufe ich wieder an. „Dann machen wir halt diesmal eine langsame Runde!“ „Okay.“ „Lauf ruhig vor.“

Als wir oben am Feld ankommen, renne ich einfach los und versuche an alles andere zu denken, als an diesen Würgereiz. Nach einem halben Kilometer schlägt plötzlich Maurten ein und ich komme ins Rennen. Es fühlt sich an als sei ein Knoten geplatzt. Dunkelheit hin oder her, ich überhole plötzlich eine ganze Menge Leute, drücke Helge wieder weg (Danke an dieser Stelle) und höre Musik. Ich bin im Flow. Meine Beine sind leicht, ich fühle mich großartig. Alle nennenswerten Anstiege kosten mich plötzlich gar keine Kraft mehr. Ich bin glücklich und entscheide spontan in dieser Runde nicht mehr zu denken. Meine Beine laufen wie von selbst, Georg ist irgendwo weit hinter mir und dann stehe ich alleine bei Nacht vor dem Balken. Langsam schiebe ich mich Schritt für Schritt herüber und springe wieder auf den Weg Richtung Stoppelfeld, welches ich auch komplett laufe. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht, steige ich unter dem Flatterband in das Camp. Auf meiner Uhr stehen knapp 43 Minuten. Von gar nicht laufen können und quasi als Besenläufer angegangen, habe ich sogar noch drei Minuten herausgeholt. Ultra ist und bleibt ein verdammtes Mysterium, über das ich öfter nur schallend lachen kann. Herrlicher Scheiß.

Ich setze mich mit einem Beutel Reis ans Lagerfeuer, lasse meine Klamotten dabei trocknen und quatsche mit Patrick und Michael, die ihre Runden mit ca. 35 Minuten beenden. Jetzt geht der Lauf erst richtig für mich los: „Sie ist wieder da!“

Ab circa 4 Uhr ist es fast wieder hell und ich habe meine erste Nacht überstanden. Es läuft noch immer wie geschmiert und Georg und ich sind immer noch ein super Team. Der Sonnenaufgang ist bombastisch und taucht Felder und Wälder in Märchenhaftes Licht. Die Kornfelder sind golden und eine weitere Runde später steigt Tau und Nebel vom Boden auf. Ich kann kaum wegsehen, muss mich aber immer auf den Untergrund konzentrieren. Es ist ganz still und wir genießen einfach nur den Moment.

Im Camp gibt es mittlerweile Rühreier und Speck. Ich esse nichts davon und bleibe bei meinem Reis. Stef bringt mir heißen schwarzen Tee, der meinen Körper nochmal mehr aufleben lässt. Ich nehme Salzstangen mit auf die Runde. Wie ein Uhrwerk bringen wir Runde um Runde hinter uns.

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(c) Legends Trail

Um 6 Uhr haben wir 10 Stunden hinter uns und etwa 65 inoffizielle Kilometer. Ich bemerke einen Druck an meinem linken Bein – es fühlt sich an, als wäre ich gegen eine Eisenstange gerannt und hätte nun einen Bluterguss. Wir beschließen, dass ich besser die Schuhe wechsele. Also sind nun die New Balance Race dran, ebenfalls Straßenschuhe. Ich spüre wie der Druck etwas weicht. Der Schmerzpunkt ist mir gänzlich unbekannt, er befindet sich direkt über dem vorderen Übergang vom Fuß ins Bein und verläuft nicht vertikal, sondern waagerecht.

Nächste Runde. Nach ein paar hundert Metern ist der Schmerz beinahe wieder weg. Und so geht es immer weiter, Runde um Runde lege ich meine Beine hoch. Runde um Runde wird der Schmerz in Ruhe zunächst schlimmer und gibt sich dann wieder beim Laufen. Meine Einlaufzeiten werden immer länger. Ich sage Georg, dass ich nicht weiß, wie lange das noch gut geht. Denn mir geht es super gut, mir scheint die Sonne aus dem Hintern, ich kann laufen, laufen, laufen. Ich weiß plötzlich, dass die 120km mehr als realistisch sind und auch die 160km erscheinen mir denkbar. Ja, ich habe verdammt Lust meine Grenzen zu verschieben, denn ich habe den idealen Tag dafür erwischt.

Also kühle ich darauf vor jeder neuen Runde mit Eiswürfeln. Mittlerweile humpele ich beim Gehen, das Laufen sieht jedoch noch gut aus. Noch kann ich die Zähne zusammenbeißen und darüber lachen. Nach 75km schaut dann doch mal der dortige Arzt drauf. Tapen würde nichts helfen, es könnte ein Shin Splint sein. „I have a knife – maybe we cut your leg?“ „One leg is okay!“

Also laufe ich weiter mit einem Eiswürfel den ich mir zwischen Socke und Schuhzunge geklemmt habe und der so verdammt kalt ist, dass ich dabei meine Haut verbrenne. Die Zeiten in denen der Schmerz wieder kleiner wird, schwinden dahin. Ich brauche immer länger um wieder auf Tour zu kommen. Ich konzentriere mich wieder auf die Runden und nur auf den Moment. Aber auch der Balken wird zur Geduldsprobe. Zudem wird es immer heißer, eine 300ml Flasche für zwei reicht bald nicht mehr.

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(c) Legends Trail

Trotzdem kommen immer wieder Hochphasen in denen ich einfach nur glücklich bin, denn nie hatte es sich nach 95km noch so gut angefühlt. Georg machte mir Mut. „Das sieht so locker aus!“ Auch die Straße runter kann ich noch beschleunigen. Das Pferd schaut uns immer noch nach und nette Anwohner haben uns einen Bottich mit kaltem Wasser an die Straße gestellt, denn es ist gerade dabei wieder unerträglich heiß zu werden. Ich übergieße Kopf und Oberkörper mit Wasser und beende die Runde diesmal sogar in 45 Minuten.

Die Krux an der Sache ist nur die, dass die Schmerzen sich so sehr in den Vordergrund drängen, dass ich sie nicht mehr unbeachtet lassen kann, als ich im Camp ankomme. Jede Pause ist die Hölle für mich, ich wäre lieber einfach weiter gelaufen.

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Runde 17 bricht an. Irgendwie geht das noch, es ist alles wie immer. Die Zeiten, mein Einlaufen. Als wir die 100 überschreiten ist das schon ein spezieller Moment, denn so weit bin ich bisher noch nicht gekommen und habe es auch nur einmal spontan bei einem Ultra versucht und bin bei 91 hängen geblieben. Und jetzt laufe ich einfach noch immer mit lockeren Beinen, total im Flow, nur an meinem Fuß hämmert der Schmerz wieder, als wir auf den Asphalt im Dorf treffen. Ich bin etwas dehydriert, die Sonne grillt uns und ich bekomme es auch noch mit dem Kreislauf zu tun. Ich weiß genau wo der Bottich steht, bis dahin renne ich weiter. Es ist Kilometer 103. Dort stecke ich meine Arme in das eiskalte Wasser und übergieße meinen Kopf mehrmals, ehe es mir wieder besser geht. Ich mache wieder einen Schritt nach vorne und im selben Moment fühlt es sich an, als hätte man mir in mein Bein geschossen. Auftreten war kaum mehr möglich, also eiere ich die Straße hinunter. Mir schießen die Tränen in die Augen, denn ich weiß genau, dass das nun meine letzte Runde ist und es mir ansonsten ein Leichtes gewesen wäre, hier noch länger mitzumischen. Ich weine leise vor mich hin, hake mich bei Georg unter und schleppe mich zum Camp, welches wir in 51 Minuten erreichen.

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(c) Legends Trail

„Stef, I’m done. It hurts so bad..“ Stef grinst mich an: „We saw the struggle.“

Ich lasse mich in meinen Stuhl sinken und merke wie mich die bleierne Müdigkeit überkommt. Dass Georg weiter läuft, ist klar und ich bekomme es im Verlauf mit der Angst zu tun, hier bis Dienstag übernachten zu müssen.

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Alles was danach kommt ist mein zweiter Ultra. Die Wege durch das Camp sind nicht wirklich so kurz und ich brauche Ewigkeiten, um mich zu den Duschen zu schleppen. Ich esse noch etwas und lege mich irgendwo auf meinen Schlafsack in den Schatten. Stündlich versuche ich Georg zu supporten, was mir aber nicht immer gelingt, da ich humpelnd einfach viel zu langsam bin. Die Schmerzen machen mich wahnsinnig, mein Fuß und auch ein Teil meines Beins werden heiß und dick, während langsam die zweite Nacht anbricht, die für alle ein Segen ist, denn die Sonne brennt alles nieder. Immer wieder steigen mehr Leute aus. Nachts um 12 Uhr fallen die 160km und das Teilnehmerfeld lichtet sich.

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(c) Legends Trail

Am Ende sind es nur noch Georg und ein Läufer, der kürzlich erstmals 50 Kilometer gelaufen ist und es nun anscheinend wissen will. Ich mache es kurz: knapp vier Stunden später gibt auch er auf und Georg muss noch eine Ehrenrunde laufen, um das Event für sich zu entscheiden. Die Trophäe ist eine Urne mit Gravur: in ihr befindet sich eine leere Verpackung eines Klebers. Das ist Belgien. Mir war mal wieder klar, dass es kein Erbarmen geben würde und war direkt froh, dass der andere Kerl so vernünftig war, denn auch meine Nacht gestaltete sich ziemlich schwierig, was meinen Fuß und den Schlaf betraf.

Zu zweit quetschen wir uns in das Kinderzelt und sind damit nach wenigen Stunden zumindest so weit wiederhergestellt, dass wir uns auf die Heimfahrt machen können. Noch immer haben wir dieses großartig-verrückte Wochenende in Gedanken vor uns und sind uns sicher, dass wir bei irgendeinem Event von Stef und Co. wieder am Start stehen werden.

 

— Jamie

 

 

5 Gedanken zu “Another one bites the dust (27.06.-29.06.2018)

    1. Ohne Georg würde ich wahrscheinlich viel weniger solcher Veranstaltungen kennen 😀 Das Umfeld war in der Tat etwas verrückt, aber das mag ich halt. Freut mich, dass dir der Bericht gefällt!

  1. Spannend geschrieben,klasse Bericht! Danke fürs teilhaben lassen – interessante, verrückte Veranstaltung.

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