Die Flucht nach vorn (wenn Laufen alles ist was übrig bleibt)

Da bin ich also wieder. Frisch zurück aus dem Urlaub an der Ostsee. Genauer gesagt waren wir in Binz auf Rügen. Sieben Stunden (oder gar mehr) an Autofahrt haben uns nicht davon abbringen können. Zumal wir das wirklich gemütlich angegangen sind und ich sowieso die meiste Zeit im Geiste die ungeahnten Laufmöglichkeiten visualisierte.

Andere fliegen in die Sonne und wir eben direkt dorthin, wo zu dieser Zeit kein Trubel mehr herrscht. So einfach bin ich zufriedenzustellen. Schlafen, essen, laufen…repeat. Mehr wollte ich gar nicht.

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Hinter den Bäumen…unser Ferienhaus

Unser Ferienhaus stand fünfzig Meter vom Strand entfernt. Perfekter hätte es einfach nicht sein können. Noch am Abend zuvor lief ich nochmal eben „schnell“ 19 Kilometer durch die Felder des Taunus, damit ich dann relativ ruhigen Gewissens die Stunden im Auto verbringen konnte. Als wir ankamen war mir dann erstmal auch nicht mehr nach Laufen und dunkel war es auch. Das änderte sich jedoch am nächsten Morgen: Augen auf, Laufschuhe an und tschüss. Das erste Mal dass ich ernsthaft auf Sand gelaufen bin. Und bis zum Wasser war der nicht minder tief. Ich erwischte zwar gerade die Ebbe, inklusive eines wahnsinnig schönem Sonnenaufgangs, aber gleichzeitig war der Untergrund ungewohnt anstrengend für meinen ganzen Körper. Die Schräge zur See und die ganzen Unebenheiten forderten beinahe meine ganze Konzentration.

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Auch das Gefühl für die Distanz ging am Strand vollkommen verloren – ohne meine Garmin hätte ich gar nicht einschätzen können, wie weit ich überhaupt lief. Nach knapp 5 einhalb Kilometern hatte mein Lauf ein Ende. Ich stand vor einem roten Bunker, welcher bis ins Wasser hineinragte. Genauer gesagt befand ich mich bereits bei Prora und das was mir meine Laufstrecke versperrte war eine Art ehemaliger Nazi-Bunker mit einem Ausmaß von 6 Kilometern Länge.

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Also bin ich wieder herumgedreht und die gleiche Strecke zurück gelaufen. Zu meiner Linken das Meer und der Himmel in den schönsten geeisten Pastelltönen die ich mir überhaupt vorstellen konnte. Dazu die salzige Luft und das Gefühl der einzige Mensch auf dieser Welt zu sein. Ich war komplett alleine, niemand war zu sehen, egal wohin ich auch blickte – außer ein paar Möwen war ich in vollkommener Ruhe unterwegs. Das was ich so sehr brauchte und irgendwie auch vermisste. Die Weite, das Licht, diese irrrealen Farben. Der Rhythmus in dem ich mich bewegte, der Abdruck im Sand, das Auf und Ab über die kleinen Sandhügel. Ich war komplett eingelullt und hatte das Gefühl, dass mich der Horizont umschloss und all das niemals Enden würde.

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Einsam und leicht gruselig – aber eine eindrucksvolle Stimmung beim Nebellauf

Nach 11 Kilometern war ich wieder am Ausgangspunkt angelangt und entschloss mich noch auf die angrenzende Seebrücke zu laufen, was durchaus auch seinen Reiz hatte, denn ich war noch immer alleine und lief quasi 400 Meter auf das Meer hinaus und wieder zurück. Mit ein paar Schlenkern durch Binz stand ich dann nach genau 12km wieder vor der Haustür.

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Insgesamt sind wir sehr sehr viel gelaufen. Morgens war ich auf eigene Faust unterwegs und später dann im Spaziermodus. So kam es, dass wir in der anderen Richtung vom Strand eine steile Treppe entdeckten, die direkt in den Wald führte. Von dort oben hatte man einen genialen Ausblick auf Strand und Meer. Es war für mich irgendwie seltsam, dass all das so ineinander verschmolz und teilweise der Sand noch im Wald zu finden war. Über dickes Laub und Trails fanden wir immer tiefer in den Wald und ich war mir mehr als nur sicher, dass ich noch am selben Tag dort laufen würde. Das man beim Anblick neuer Wege und Wald sich plötzlich freut wie ein kleines Kind und ganz aufgeregt wird, weil man bald das Territorium mit den Laufschuhen erobert, wäre mir vor ein paar Jahren bestimmt noch nicht passiert.

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Von hinten nach vorne: Meer, Strand, Wald

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Also wurden auch an Tag 2 wieder gelaufen. Grob wusste ich ja schon wohin es gehen sollte. An der See entlang, lief ich bis zur Treppe und lief diese so schnell es ging nach oben, möglichst ohne unterwegs abzustürzen. Oben angekommen schlug ich mich durch das Laub und musste wirklich böse auf den sich darunter verbergenden Boden aufpassen. Wurzeln und lose grobe Steine machten es mir nicht leicht. Flach war es auch nie und teilweise trat man einfach in große Kuhlen im Boden. Als ich tiefer im Wald vorgedrungen war, änderte sich der Belag immer mehr. Aus Laub wurde Sand, dann kamen Steine hinzu, dann Laub und schließlich so etwas wie Asphalt, jedoch mit Aussparungen dazwischen. Also genau die richtige Vorlage um den Halt zu verlieren. Die erste Steigung kam und mit dieser auch das Hinunterlaufen auf der anderen Seite. Mir ging es richtig gut, ich war beschwingt und lief mit Schwung bergab. Das ging genau ein paar Meter gut, als ich plötzlich aus heiterem Himmel ins Stolpern geriet, weil auch dort (wie sooft) unter dem Laub diese großen losen Steine versteckt waren. Und auf genau so einen war ich wohl gestoßen. Mit dem rechten Fuß auf dem Stein und mit dem linken gerade in der Luft. Ich stolperte zwei Mal unkontrolliert vor mich hin und nahm dabei natürlich noch mehr an Fahrt auf ehe der Boden wie in Zeitlupe näher kam und ich merkte wie ich hart aufschlug, ein Körperteil nach dem anderen. Hundert Meter vor mir drehte sich ein Spaziergänger kurz nach mir um, der den Aufschlag wohl gehört hatte – und lief weiter.

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Die eine Hälfte der Treppe
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Einer der schöneren glatten Wege

Im ersten Moment ärgerte ich mich. Im Zweiten war ich doch froh mit meinem Schmerz alleine sein zu können und in Ruhe nachzuspüren wie schlimm es denn tatsächlich stand. Ich hatte mich mit den Händen abgefangen und mit den Knien gebremst. Meine Hose war kaputt und aus dem Loch tropfte das Blut und der Sand klebte wie Schmirgelpapier in der Wunde. Meine Hand sah auch nicht viel besser aus. Ich blieb sitzen bis ich wieder klar denken konnte, oder zumindest der Meinung war. Dann wischte ich mit einem Taschentuch provisorisch grob Blut und Dreck weg, schaute auf meine Garmin und fand, dass gerade mal ein Kilometer nicht das war, was ich geplant hatte. Also erhob ich mich, zog die Jacke über die Handflächen und lief vorsichtig weiter. Das Knie hielt – außer die Wunde schien nichts daran zu sein.

Nach ein paar Kilometern hatte ich mich wieder etwas beruhigt und meine Körperspannung war zurück gekehrt, ich nahm den Wald wieder mehr wahr und lief sogar noch bis nach Sellin, machte kurz halt und spürte das erste Mal mein Knie pulsieren, sodass ich lieber schnell wieder weiter lief. Über ein paar steile Trails (immerhin bis zu 14%) und einer beinahe-Verirrung, kam ich dann wieder zurück nach Binz. Immerhin 13km waren es geworden, doch der schale Beigeschmack des Sturzes haftete daran. Wie ich dann den Sand schmerzlich letzten Endes gänzlich entfernt habe, erspare ich euch lieber. Auf jeden Fall ist und war alles schön grün und blau, inklusive einiger Andenken der Umrisse der Steine.

Nur ein paar Stunden später war ich dann plötzlich so erschlagen und hatte Schmerzen am ganzen Körper, dass der Tag für mich gelaufen war…leider. Eine Schmerztablette und zehn Stunden Schlaf später, war ich zum Glück wieder unter den Lebenden und ging wieder laufen. Man könnte mich jetzt unvernünftig nennen…aber was mich nicht umbringt und so…ihr wisst schon. Ich lief einfach ganz lockere 11km im Sand und fühlte mich schon wieder besser. Da war auch die Angst vor einem erneuten Sturz nicht mehr so groß. Später fuhren wir mit dem Schiff zu den Kreidefelsen. Leider zog sich der Himmel sehr zu und es begann leicht zu regnen.

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Fahrt nach Jasmund

Ich kaufte mir ein Buch (Girl on Train) und fand tatsächlich mal wieder die innere Ruhe, um darin zu versinken und es sogar noch in dieser Woche komplett auszulesen. Das hat Seltenheitswert.

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Mittlerweile hatte es sich bei mir so eingebürgert, dass ich jeden zweiten Tag am Strand lief und die anderen Tage durch die Wälder streifte und zumindest ein paar Höhenmeter sammelte. Leider wurde das Wetter immer schlechter und es wurde kälter, sodass ich mit Jacke und Mütze laufen musste. Mal lief ich zum Jagdschloss Granitz und bei meinem letzten Lauf noch einmal nach Sellin, nur dieses Mal ohne Sturz und auf komplett anderen Wegen, die zu 90% nur aus Trails bestanden.

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Seebrücke von Sellin

Zumindest stellten die Strandläufe kein Problem mehr da, ich hatte mich daran gewöhnt. Mein letzter Lauf auf Rügen, fiel zwar ins Wasser, unterwegs war ich dennoch. Angekündigt war leichter, permanenter Regen. Aus diesem wurde jedoch mäßiger bis starker Dauerregen. Als ich das bemerkte, war ich jedoch bereits schon so nass, dass es einfach egal war. Nur der Untergrund machte mir zu schaffen. Das Laub war glitschig, Steine und Wurzeln waren es ebenfalls. Bergab lief ich fast langsamer als bergauf. Ich wollte eigentlich an die 20 Kilometer laufen, aber daraus wurden nur 14.

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Die Qual der Wahl

Es war richtig ungemütlich und ich kam mehrmals an den Punkt, an dem ich mich fragte was mich eigentlich geritten hat. Die ganze Situation erdete mich jedoch irgendwie – ich weiß nicht, ob ihr das kennt: auf „Null“ zu sein. Man ist zwanglos, man hat einfach nichts besseres zu tun. Läuft und läuft durch eine Regenwand, ist nass bis auf die Knochen. Kämpft sich bergauf, hat beinahe Angst vor dem Bergab. Man kennt den Weg nicht wirklich und weiß nicht mal wann man tatsächlich „da“ ist. Der Wald ist licht, aber irgendwie ist er das auch nicht und mich hat es stellenweise wirklich gegruselt. Ich fühlte mich verfolgt und war trotzdem wahrscheinlich die einzige Person weit und breit.

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Ich habe zwar oft über das „Warum“ des Laufens geschrieben, aber ich frage es mich dennoch immer wieder. Oft weiß ich gar keine Antwort. Ich stelle mir Gegenfragen. Was würde ich stattdessen tun? Würde ich mich besser fühlen? Nein. Und dieses Nein ist meine Hauptantwort auf das Warum. Laufen ist das was nach Abzug allem übrigbleibt. Das mag traurig klingen. Aber wie ich schon einmal sagte, gibt es meiner Meinung nach nichts ehrlicheres als Laufen. Laufen ist anders als spazieren gehen, es bringt mich eine Ebene tiefer. Getragen und gefangen von den eigenen Beinen, den Schritten im immer gleichen Takt. Eingelullt von der Anstrengung, die einen anders denken lässt. Man kommt nicht mehr so tief, aber man kommt über andere Abzweige im Gehirn an Gedanken die man im Alltag sonst nicht hat. Laufen ist eine Droge, so wirkt es zumindest bei mir. Ich spüre den Gegendruck vom Berg, vom Untergrund. Ich muss mit vollem Körpereinsatz dagegen halten. Gegen Wind, Regen und vor allem gegen mich selbst. Das wiederum gibt mir das Gefühl von Sicherheit, von Kontrolle. Ich flüchte vor der Lähmung des Alltags, die einen schneller mit ihren kalten Klauen packt als einem lieb ist. Ich reiße mich bewusst aus der Komfortsituation, immer vorwärts, um irgendwann vielleicht wirklich ganz bei mir selbst anzukommen.

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— Jamie

9 Gedanken zu “Die Flucht nach vorn (wenn Laufen alles ist was übrig bleibt)

    1. Danke dir. Oft kann ich es gar nicht in Worte fassen, aber manchmal gelingt es eben doch. Ich denke wir Läufer sind in der Tiefe unseres Herzens irgendwie gleich – es ist oft weniger die Vernunft die antreibt (sonst würde das über die Jahre gar nicht funktionieren meiner Meinung nach), sondern eher das Ungesagte und vor allem das was einem immer wieder durch die Finger rinnt, so gern man es auch greifen würde…

  1. Moin,
    schöner Urlaubslaufbericht. Hat mir am Strand gefallen. Danke fürs mitnehmen, aber beim nächsten mal ohne Sturz. Ok?
    Die Worte am Ende sind mir nur allzu vertraut.

    Keep on Soulrunning
    😉

    1. Gern geschehen 😉 Eigentlich bin ich gar nicht so anfällig beim Laufen den Boden zu küssen, aber ich denke das hat mich gelehrt demnächst doch etwas mehr aufzupassen.
      Freut mich zu hören, dass auch du so fühlst.

      LG, Jamie

  2. Ich kenne diese Droge! Bei mir läufts die letzten Jahre leider ziemlich bescheiden. Gerade vor Kurzem habe ich wieder gemerkt wie sehr es mir fehlte das Laufen. Wie soll man denn einen klaren Kopf bekommen wenn man nicht läuft!?!
    LG von einem Mit-Junkie 😉

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