Teil 2 – Auf dem Weg zu mir selbst: Von Hoffnung, Zweifeln und Lehrgeld

Im letzten Teil hatte ich berichtet wie es war, als ich meine Hündin von der Pflegestelle abgeholt hatte. Nun hatten wir aber unsere erste gemeinsame Nacht vor uns. Zumindest war ich mir an diesem Abend über eines sicher: Sie bekam den Namen „Mori“. Das ist Japanisch und bedeutet Wald. Es wird mit 3 kleinen Bäumchen in Kanji geschrieben. Ich erhoffte mir aufgrund der Bedeutung eine Art selbsterfüllende Prophezeiung.

Wir hatten uns den Abend über schon so weit angefreundet, dass ich sie zu mir auf die Couch holte, um erstmal ein bisschen Nähe herzustellen. Sie ließ sich streicheln und drehte sich sogar auf den Rücken! Nach nur ein paar Stunden war einiges anders.

Nicht nur ihr beinahe großzügiges Verhalten mir gegenüber, sondern sie machte mir plötzlich den Eindruck, als hätte sie verstanden, dass nun endlich Ruhe einkehrt und sie ein neues Zuhause hat.

Die Couch wurde innerhalb weniger Minuten zu ihrem sicheren Hafen. Als ich sie zum letzten Gassi holen wollte, hätte sie sich am liebsten zwischen den Kissen unsichtbar gemacht.

Auch wenn ich ein sehr sensibler und meiner Meinung nach empathischer Mensch bin, ich hatte in diesem Moment kein Mitleid mit ihr. Denn ich wusste, dass wir uns nun einfach eine Struktur aufbauen müssen, die ich genau so dringend mit ihr brauchte, wie sie selbst. Ich habe sie also von der Couch gehoben und mit leichtem Nachdruck dazu gebracht die Treppen selbst zu nehmen.

Unten angekommen klemmte sie bei jedem fahrenden Auto, Menschen, einfach allem was sich bewegte oder lauter war, in 300m Entfernung, den Schwanz ein und sprang gegen die Mauern. Um es kurz zu machen: Wir benötigten in etwa 20-30 Minuten für nur 600m bis ins Feld / Wald.

Mir wurde bewusst, dass es eventuell ein längerer Weg werden könnte der da vor uns lag. Ich wollte sie in diesen Momenten nicht trösten, aber dafür schützen. So versuchte ich von Anfang an alle unangenehmen Situationen vorauszusehen, nahm sie nach innen neben mich und hielt sie einfach nur leicht fest, während ich mit ihr redete und sie gleichzeitig mit meinem Körper schützte. War das was sie ängstigte an ihr vorbeigefahren, lobte ich sie jedes Mal ruhig mit der Stimme.

Man kann sich vielleicht wage vorstellen, was das für die nächsten Spaziergänge bedeutete und wie viel Fingerspitzengefühl ich in alles was wir taten hineinstecken musste, um meinen eigenen Emotionen gerecht zu werden. Ich fühlte ihr Trauma und die nackte Panik. Auch ich kenne so etwas nur zu gut – weshalb ich glaube, dass wir uns auch deshalb besser aufeinander einlassen und vor allem still kommunizieren konnten.

Ich habe in der Anfangszeit nur sehr wenig, und wenn, dann sehr ruhig mit ihr geredet. Ich bestärkte sie in allem was ein gutes oder selbstbewusstes Verhalten zeigte. Meine „Nein’s“ lassen sich noch immer an einer Hand abzählen. Ich finde, dass man mehr loben als tadeln sollte, dann folgt der Hund gerne und ein ernstgemeintes „Nein“ zeigt im Zweifel seine Wirkung. Wiederholungen tragen für alles Positive Früchte, verwendet man sie für das Negative, wird jeder Mensch, aber auch jeder Hund irgendwann auf Durchzug schalten.

Da sie weiterhin unbestechlich blieb, geschah das Lob weiterhin nur mit Stimme. Mir war schleierhaft, wie ich ihr so die Kommandos beibringen sollte, aber auch hierbei wurde ich mit der Zeit überrascht.

Unsere Schlafsituation gestaltete sich wie folgt: Ich hatte eine Stoffbox für sie neben mein Bett gestellt und trug sie jeden Abend hinein. Sie wiedersetzte sich nicht und blieb einfach darin liegen, bis ich wieder aufstand. Sie erschien mir völlig emotionslos, beinahe depressiv. Sie kuschte immer nur, wedelte nie mit dem Schwanz, klemmte ihn gar ein. Erschrak vor jeder Bewegung, sprang auf die Couch und versuchte sich zu verstecken.

Ich nahm sie vom ersten Tag an mit auf Spaziergänge, die anfangs nicht länger als 30 Minuten waren. Die ersten 600m bestanden aus Protektion meinerseits, im Wald angekommen entspannte sie sich etwas mehr und lief einfach mit. Ständig versicherte sie sich zu mir nach hinten am anderen Ende der Leine. Danach war sie platt. Sie schlief eigentlich den ganzen Tag, was mir zeigte, dass sie viel zu verarbeiten hatte. Gleichzeitig haarte sie wie ein Weltmeister und hielt mehr als einmal 24 Stunden ihre Körperflüssigkeiten zurück, erleichterte sich jedoch nicht wie vermutet in der Wohnung. Sie war mir in vielerlei Hinsicht ein Rätsel.

Zumindest war Mori schon soweit angekommen, dass ich mich bei „Gefahr“ nicht mehr neben sie knien musste. Spaziergänge und kurze Laufeinlagen waren jedoch für sie noch keine Normalität. Sie lief fünf Schritte, stoppte, schaute sich um und lief auf leichten Nachdruck weiter. Ich befand mich in einem Dilemma. Ich hatte bereits von Hunden gehört, die auch nach einem Jahr noch nicht „lebensfähig“ waren. Es machte mir sehr zu schaffen, da ich kein Feedback von Mori bekam. Sie zeigte keine Freude, auch nicht, wenn sie sich gerade sicher fühlte. Ich war tagein tagaus mit einem depressiven Hund an meiner Seite unterwegs und gefühlt gefesselt.

Es fing damit an, dass ich mir Vorwürfe machte. Diese Zweifel überrollten mich vor allem nachts. Ob ich der falsche Mensch für sie bin? Ob sie denn bei mir sein möchte? Ob es ihr egal ist, bei wem sie gelandet wäre? Will sie überhaupt in den Wald? …

Es fühlte sich zunehmend an, wie ein nebeneinanderher-Leben, mit dem Zusatz, dass ich sie zu allem was einfach sein musste, mit Nachdruck zu überreden hatte. Wir reden hier nicht davon keinen Spaß zu haben, sondern vielmehr davon, dass ich mich unsicher und total fehl an Mori’s Seite fühlte. Es ging soweit, dass mir eines Abends die Tränen kamen und ich wochenlang nicht mehr aus diesem Loch herauskam.

Ich hatte die Verantwortung für diesen einen Hund und ich fühlte mich damit überfordert, überwältigt, eingeschränkt und wie gelähmt. Dazu kam, dass ich mein eigenes Training kaum mehr fortführen konnte. Was ein paar Tage später aber auch nicht mehr so schlimm war, da ich solche Asthmaanfälle bekam, dass ich im 6:30er Schnitt einen Puls von 190 sprengte. Das hieß ich ging nur noch wandern, versuchte ab und zu Mori zum Laufen zu bewegen. Ich musste sie über jeden noch so kleinen Ast oder Baumstamm heben, da sie sofort stoppte. Alle fünf Meter blieb sie stehen und blickte sich um und lief nur auf Aufforderung hin weiter. Ich sah keine Fortschritte und demnach auch kein Licht am Ende des Tunnels. Ich fragte mich, ob ich einen Fehler gemacht hatte. Ich fragte mich, ob ich so leben könnte. Die Antwort war nein. Ich war zerrissen, hing fast jeden Abend am Telefon und klagte meiner Mutter mein Leid. Ich hatte dieses kleine arme Wesen so lieb, aber ich kam immer mehr zu der Ansicht, dass sie nicht glücklich war und ich war es deswegen auch nicht mehr.

Ich musste auch anfangen sie alleine zu lassen, denn ich konnte sie beim Einkaufen nicht im heißen Auto unterbringen. Also schleppte ich jedes Mal die Transportbox aus dem Auto hoch in die Küche und ließ sie dort. Ich stellte auch meinen Laptop mit laufender Webcam auf, um ihr Verhalten nachträglich zu beobachten. Sie zeigte keinerlei Panik, aber nagte immer mal wieder leicht trotzig an den Gitterstäben. Es hätte definitiv schlimmer sein können, aber das schlechte Gewissen blieb.

Die Tatsache, dass sie zu Hause ein völlig anspruchsloser Hund war, ihr Körbchen kaum verließ, nicht bellte, nicht spielte oder anderweitig meine Nerven strapazierte, machte das Dilemma für mich eigentlich nur noch schlimmer. Sie tat nichts unrechtes, man bemerkte sie noch nicht einmal und dennoch fühlte ich mich schlecht.

Ich war völlig fertig, schlief kaum noch und war in Gedanken nur noch bei Mori und der Lösung des Problems. Ich spielte sogar mit dem Gedanken sie wieder abzugeben. Meine Mutter bot mir an sie zu übernehmen, wenn es wirklich gar nicht mehr gehen sollte. Das beruhigte mich zunächst etwas. Dann kam aber wieder der Punkt, an dem ich anfing durchzudrehen und ich Nägel mit Köpfen machen wollte. Ich fühlte mich einfach nur schlecht und erdrückt. Doch aus Nägel mit Köpfen wurde nichts. Auf einmal wurde mir wieder gewahr, dass alles wie immer war und ich, wenn es drauf ankam, auf mich alleine gestellt bin.

Ein Netz mit doppelten Boden habe ich nie gehabt und sich trotz aller Erfahrungen wieder darauf verlassen zu wollen, war schlichtweg nur dumm. Bevor Mori in mein Leben kam, hatte ich ein dumpfes Gefühl, dass ich auch ohne die Hilfe meiner Familie in Sachen Hund (Urlaub, Krankheit etc.) auskommen musste und hatte mich eigentlich schon darauf eingestellt. Dass ich aber psychisch in eine solche Ausnahmesituation kam, war mir zuvor jedoch nicht bewusst gewesen.

„Dann hoffe ich für dich, dass du niemals ein Kind haben wirst, wenn du jetzt schon so durchdrehst.“

Wie kommt man aus so einer verfahrenen Situation wieder heraus? Ich schaltete wieder in den Auto-Modus, den schon mein ganzes Leben in Situationen aus denen ich nicht fliehen konnte, verwendet hatte. Etwas Abstand von sich selbst nehmen und einfach einen Schritt vor den anderen machen. Buchstäblich und auch im übertragenen Sinn. Von einem zum anderen Tag leben und die Hoffnung nicht ganz sterben lassen.

Ich versuchte mich über jeden kleinen Schritt von Mori zu freuen, der ihr zuvor noch nicht möglich war und versuchte dabei auszublenden, dass ich es war, die sie immer wieder mit leichtem Druck in solche Situationen bringen musste. Intuitiv war mir klar, dass sie niemals den ersten Schritt machen würde, wenn ich es nicht tat. Und so eierten wir mit Sicherheitsgeschirr und Joggingleine bis zu zwei Stunden über die Trails.

Einer der Trails war eigentlich nicht mehr begehbar, total verblockt und gespickt mit tausend Hölzern und Ästen. Nach ein paar Metern wurde der emotionslose Flummi neben mir plötzlich lebendig und fing an wie eine kleine Ziege über das Geäst zu hüpfen, sodass ich kaum noch hinterher kam. Sie zeigte mir endlich das erste Mal so etwas wie Freude am Leben.

Ab diesem Tag schöpfte ich reelle Hoffnung, dass wir uns auf irgendeine Weise noch aufeinander einschießen würden. Mein Herz wurde wieder leichter.

Ihr erster Freigang geschah bereits nach knapp 3 Wochen bei einem Spaziergang mit Georg. Wir liefen über einen schmalen Singletrail, ich hatte sie an der Schleppleine und hörte Georg plötzlich sagen: „Mach sie doch los, wo soll sie denn hin?“

Ich überlegte hin und her. Sie erschien mir tatsächlich nicht so, als wollte sie vor mir flüchten. Dazu war die Angst einfach zu groß alleine gelassen zu werden. Mit Herzklopfen und zitternden Fingern löste ich den Karabiner an ihrem Halsband und hielt die Luft an, während in meinem Kopf ein Szenario losging, wie sie einfach losrennt und auf nimmer Wiedersehen im Wald verschwindet.

Doch es passierte rein gar nichts. Sie blieb dort wo sie war und folgte mir, als sei die Leine noch immer mit ihr verbunden. Dies änderte sich auch in den darauf folgenden Tagen nicht. Sie lief in der Regel hinter mir und somit hatte ich plötzlich einen kleinen Schatten an der Seite, der sich immer versicherte, dass ich noch da war.

Also band ich sie langsam ins Laufen ein, obwohl ich mir noch immer nicht sicher war, was für diesen Hund das Richtige war. Es kostete mich enorme Kraft sie zu motivieren und ständig positiv zu bestärken. Ihre erste 7 Kilometer schaffte sie mit einem Mix aus Laufen und Gehen, in etwa einer Stunde und Muskelkater für den restlichen Tag. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass ich sie mit Nachdruck hinter mir her ziehen musste, um sie einen Schritt weiterzubringen. Auch das machte mir Gewissensbisse, da ich Angst hatte sie zu überfordern oder zu nötigen. Gleichzeitig sagte mir mein Bauchgefühl, dass ich sie sonst nicht aus ihrem Schneckenhaus bekommen würde.

Dann gab es immer mal wieder diese seltenen Momente in denen sie plötzlich anfing zu sprinten. Nur kurz, aber es gab sie und daran klammerte ich mich fest.

Bis ich mich traute, die Leine auch im Feld abzumachen, dauerte es noch einige Zeit. Als ich diesen Schritt auch geschafft hatte wurde mir auf einmal bewusst, dass sie sich an der Leine nicht wohl gefühlt hatte, da es ihr zu wenig Abstand zu mir war. Sie hatte ständig Angst in Bedrängnis zu geraten oder einen Fuß abzubekommen. Wie sehr sie misshandelt worden sein musste, will ich gar nicht wissen. Das spiegelte sich auch beim Fressen wieder. Der Hunger war da und durch die viele Bewegung war der Napf auch immer leer. Die Art und Weise jedoch, wie das Futter in den Hund kam, hatte ich zuvor auch noch nie gesehen.

Es hatte sich mit der Zeit herauskristallisiert, dass meine persönlichen stoischen Routinen, wie z.B. mein immer gleicher Ablauf am Morgen, ihr ebenfalls Sicherheit gab. Es war wie ein Tanz mit den immer gleichen Schritten und Bewegungen. Während dieser Abläufe in der Küche, traute sie sich zu fressen, solange ich beschäftigt wirkte. Dazu ging sie zum Napf, inhalierte hastig etwas Trockenfutter und zog sich damit ein paar Meter vom Napf zurück, als ginge von diesem eine Gefahr aus. Dazwischen zuckte sie ohne Grund immer wieder zusammen, hastete wieder zum Futter usw. Abends musste ich mich so auf die Couch setzen, dass sie mich von der Küche aus sehen konnte. Sie lief zum Napf, dann schaute sie wieder zu mir ins Wohnzimmer und das Spiel wiederholte sich solange, bis sie wieder zu mir getrabt kam und sich in ihre Korb legte.

Bis heute beobachte ich immer wieder, dass bspw. laufendes Wasser oder das gleichmäßige Geräusch des Umrührens in einem Topf oder einer Tasse, ihr Sicherheit gibt. Damit frisst und trinkt sie beinahe ohne Unterbrechungen, bis heute. Das brachte mich zu der Überlegung, dass ihr das Laufen wirklich helfen könnte, da diese gleichmäßige Form der Bewegung und veränderte Hirnaktivität auch mir rückblickend geholfen haben meine Empfindungen zu balancieren und mich aus meiner Blase herauszubewegen.

Ich ging also weiter intuitiv mit ihr um, da mir bewusst war, dass sie kein klassischer Hund war, den man mit dem Einmaleins der Hundeschulen an sich binden oder gar erziehen konnte. Daher benötigte sie in etwa auch fast zwei Monate bis sie das Kommando „Sitz“ beherrschte. Vor allem im Wald weigerte sie sich lange Zeit, da sie einfach noch zu unsicher war. Ihr gutes Verhalten mit einem Leckerli zu bestärken, blieb auch weiterhin fruchtlos.

Also fing ich an ihre Ängste zu nutzen. Lief sie bei Radfahrern oder Spaziergängern an den Wegesrand, bestätigte ich sie freudig. Kam sie zu mir gelaufen, untermauerte ich dies mit „Komm!“ und lobte auch hier ausgiebig. Sie auf das klassische „Fuß“ zu programmieren, hat bis heute nicht funktioniert, da ich dieses Wort normalerweise nicht gebrauche. Mori ist ein Hund der stetig versucht die Menschen im Alltag zu „lesen“. Im Umgang mit ihr habe ich häufiger das Wort „warte“ verwendet, weswegen sich dieses Wort nun nicht nur für das Warten an sich (auf mich, an Straßen etc) bezieht, sondern mittlerweile auch „Fuß“ ersetzt.

Sie versteht ebenfalls situationsbedingt wie das Wort „warten“ gerade gemeint ist. Gebrauche ich es vor der Tür, weil ich mir gerade die Schuhe anziehe oder nochmal in die Wohnung gehe, weil ich etwas vergessen habe, setzt oder legt sie sich hin und wartet. Sage ich es beim Laufen, wechselt sie in der Regel auf meine Seite und läuft direkt vor oder hinter mir, um Radfahrer passieren zu lassen. Wo sie bleiben soll, untermauere ich öfter mit Handzeichen. Reagiere ich zu spät ist es in der Regel meine Schuld, wenn doch mal jemand anhalten muss.

Umgekehrt ist es so, dass Mori genau versteht, ob ich etwas (wie z.B. „Komm“) nur so dahersage, was ich versuche zu vermeiden. Es kommt manchmal auch vor, dass sie direkt schräg hinter mir läuft und ich denke, sie ist weiter weg und deshalb kurz und laut nach ihr rufe – da schaut sie mich dann nur kurz komisch an.

Es gibt aber noch eine weitere Interpretation von „Komm“ – diese ist für Intervalle und Sprints gedacht. Ich denke da macht die Tonlage die Musik. Mir ist es sogar einmal passiert, dass ich auf der Bahn mitten im Training auf einmal „Komm!“ gerufen habe, um den nächsten Intervall anzukündigen, obwohl Mori gar nicht dabei war 😀

Im dritten Monat mit ihr, konnten wir bereits soweit gehen, auch Touren mit bis zu 25 hügeligen Kilometern zu lauf-wandern. Es war plötzlich kein Problem mehr, mit ihr mehr als 3 Stunden unterwegs zu sein. Das alles führte dazu, dass ich gar nicht merkte, wie all meine Zweifel plötzlich alle verblassten und ich es nicht fassen konnte, wie sehr ich mich hatte verunsichern lassen. Wie wenig ich an sie und auch an mich selbst geglaubt hatte. Wie unfassbar verzweifelt ich gewesen war. Der Ballast war nahezu komplett weg.

Leider kotzte sie mir noch immer ins Auto, teilweise erst dann, wenn wir uns schon 200 Meter vor meiner Wohnung befanden. Daher kaufte ich eine Art Sitz für die Rückbank des Autos, sodass sie mich sehen konnte. Daraufhin wurde es weitestgehend besser, bis sie irgendwann einfach damit aufhörte.

In jeder neuen Situation oder an einem neuen Ort zitterte sie wie ein Wackeldackel. Ich nahm sie einfach überall hin mit, ob zum Friseur, in die Stadt oder ins Büro nach Freiburg. Jedes Mal zitterte sie so lange, bis sie merkte, dass es gar nicht um sie ging und sich wieder beruhigte. Beim Tierarzt gab es solche Probleme kurioserweise nicht.

Dennoch konnte ich sie nicht zu Wettkämpfen mitnehmen. Also blieb sie bei meinem „Pferdeopa“. Doch ein glücklicher Hund sah anders aus. Sie machte plötzlich in die Wohnung, aber draußen nichts und versteckte sich den ganzen Tag lang unter der Couch. Versuche sie langsam an einen anderen Menschen zu gewöhnen haben bis heute leider nicht funktioniert. Ich habe mir eigentlich für sie gewünscht, dass sie neben mir noch eine zweite Bezugsperson hat, aber darauf hat sie sich nie eingelassen. Gemeinsame Spaziergänge, Besuche, Stundenweises betreuen… wir fingen immer wieder von Null an. Für meinen Großvater war das sicherlich auch ein Schlag ins Gesicht, da er bisher zu jedem Tier eine individuelle Verbindung herstellen konnte und mir daher etwas beleidigt erschien. Das machte mir wirklich Bauchschmerzen und ich begann nach Alternativen zu suchen und den Rat bei einer Hundetrainerin zu suchen.

Diese begleitete mich einen Vormittag lang und hatte nichts an meinem Umgang auszusetzen. Mehr Vorschläge zum Thema „Betreuung“, als Gewöhnung und „Da muss sie durch“, gab es leider nicht. Lediglich zu einem GPS Tracker riet man mir, den ich auch sofort bestellte.

In mir nagte zudem das schlechte Gewissen, meinen Hund jemand anderem „aufzubürden“. Also beschäftigte ich mich Alternativen, denn in eine Tierpension wollte ich sie nicht geben, da der Kontakt zu anderen Hunden ihr noch immer viel Stress macht und sie deutlich zeigt wie viel Ruhe sie benötigt. Es gibt ein paar Plattformen, die Hundehalter und Hundefreunde zusammenbringt, auf privater Basis. Ich erhoffte mir dadurch eine feste Bezugsperson für Mori und ein weniger schlechtes Gewissen.

Es dauerte einige Zeit, bis sich ein paar Personen meldeten. Wir vereinbarten Treffen, gingen gemeinsam spazieren. Ich spürte viel Empathie und Sensibilität von betreffenden Personen und versuchte daher aus der Betreuungssituation keine große Sache für Mori zu machen. Wir wollten sie langsam daran gewöhnen, eine kurze Zeit nicht bei mir zu sein, da hatte ich die Hoffnung einfach noch nicht aufgegeben.

Natürlich zahlte ich mal wieder Lehrgeld. Wir vereinbarten sie für 2 Stunden zu betreuen und solange im Haus zu behalten, während ich einen Termin in Frankfurt hatte, zu dem ich sie theoretisch hätte mitnehmen können. Ich war kurz davor aus Bequemlichkeit abzusagen, aber mir war auch klar, dass wir da jetzt dranbleiben müssen. Also habe ich die Fahrerei auf mich genommen und sie nach Friedberg gebracht. Ebenfalls habe ich kein Abschiedsdrama veranstaltet. Ich wollte, dass solche Situationen für sie zur Normalität werden.

Wir telefonierten eine halbe Stunde später noch einmal, damit ich wusste wie es Mori gerade ging. Sie hatte wohl etwas Stress, lag in einer Ecke und hechelte ab und zu. Manchmal muss man die Tiere einfach so lange in einer für sie unangenehmen, aber gefahrlosen Situation behalten, bis sie sich entspannen, damit eine positive Verknüpfung im Gehirn abgespeichert wird und alte Erfahrungen überschrieben werden.

Als ich mich später auf den Weg zu meinem Auto machte, klingelte mein Handy. „Wo bist du?“

Es klang leicht vorwurfsvoll und ich war total irritiert, da ich nicht zu spät dran war und nicht verstand was diese Frage sollte. Der zweite Satz kam prompt: „Mori ist weggelaufen“

Mir wurde postwendend schlecht und mein Herz schlug wie wild. Ich versuchte herauszufinden wie das passiert war und irgendwie die Nerven zu behalten. Weit konnte sie sicher nicht sein. Ich stieg ins Auto und raste über die A5. Währendessen bekam ich einen Anruf von der Polizei, da sie bereits als vermisst gemeldet worden war.

„Wir haben einen Anruf erhalten, dass ein kleiner Hund mit braunen Pfoten an der Total-Tankstelle in Rosbach gesehen wurde“. Ich fing an zu zittern. In Rosbach? Das war 7 Kilometer von Friedberg entfernt, in meine Richtung. Wie konnte das sein, wenn sie eben erst weggelaufen war? Vielleicht war es ein anderer Hund?

Also fuhr ich bei Rosbach raus und zur Tankstelle. Dort wusste aber anscheinend niemand Bescheid. Ich wies darauf hin, sich sofort bei der Polizei zu melden, sollte ein Hund gesichtet werden. Mit einem dumpfen Gefühl fuhr ich nach Friedberg. Es dämmerte schon, als ich ankam.

Als ich die ganze Geschichte im Detail hörte, spürte ich wie die geballte Dummheit der Menschheit sich gerade in Friedberg zusammengefunden hatte. Ich erfuhr es, nachdem ich neben dem Haus über die Feldwege und durch die Straßen gelaufen war und nach ihr rief, in der Annahme sie sei noch irgendwo dort.

Sie sei schon vor 3 Stunden weggelaufen. Auch wenn ich in diesem Moment nicht mehr rechnen konnte, war klar, dass es beinahe direkt nach meiner Abfahrt gewesen sein musste und man mir die Chance genommen hatte, sie noch vor Ort zu finden. Sie sei beim Öffnen der Gartentür direkt zwischen den Beinen entwichen und ohne zu zögern über den 1,40m hohen Zaun in den Nachbargarten gesprungen. Von dort versuchten sämtliche Nachbarn sie aufzuhalten, während sie in Panik weitere Zäune übersprang, während eine Gruppe von Kindern am Ende der Vorgärten hinter ihr her rannten, um sie zu greifen. Sie verschwand im Feld und war weg.

Ich war schockiert, sauer und einfach fassungslos wie ich mich so täuschen konnte. Ich fragte mich wo die ganze Empathie hin war. Zudem hatte ich bei einigen Treffen demonstriert, dass Mori niemals ohne Leine zu ihnen laufen würde, da einfach noch keine Bindung besteht. Ich habe das ausprobieren lassen, um diesen Zahn gleich von Anfang an zu ziehen, dass wir hier keinen treudoofen Retriever vor uns haben.

Ich hatte Tränen in den Augen, während man neben mir ihren Namen schrie und ich wütend entgegnete, dass sie darauf nicht hört. Inzwischen war es stockdunkel und ich musste zurückfahren. Meine Augen suchten die Straßenränder ab, aber ich fand sie nicht.

Zu Hause ließ ich das Gartentor auf, setzte mich an den PC, meldete sie bei Tasso als vermisst. Dann setzte ich mir nach 22 Uhr die Stirnlampe auf und rannte die Trails Richtung Köppern und Rosbach ab, rief immer wieder nach ihr, aber fand sie nicht. Plötzlich war alles real. Ich trat speziellen Gruppen bei Facebook bei. Auf einmal war ich nicht mehr alleine und ich stolperte über einen Post vom selben Abend. Es wurde ein Dackel an der Hauptstraße zwischen Friedberg und Rosbach gesichtet. Ich setzte mich mit den Personen in Verbindung und hatte danach keinen Zweifel mehr, dass es Mori gewesen war.

Ich stand wie unter Schock, schlief gefühlt nur wenige Minuten, erledigte wie ein Roboter früh morgens meine Arbeit, meldete mich krank und setzte mich auf mein Mountainbike und fuhr über die Trails Richtung Rosbach, während mir unkontrolliert die Tränen über das Gesicht liefen.

Als ich das nächste Mal auf mein Handy schaute, hatte sich bereits noch jemand bei mir gemeldet. Ich wusste bisher nicht, dass es ehrenamtliche Suchtrupps gab, die vermisste Tiere aufspüren und den Besitzern helfen nicht völlig durchzudrehen. Wir telefonierten miteinander, ich bekam noch mehr Kontakte und Tipps. Schon bald stand ich mit Deutschlands Hundefänger Nummer 1 in Kontakt und durfte mir die Horrorgeschichten eines gehassten Profi-Tierfängers anhören, dessen Arbeit von so genannten „Tierschütztern“ boykottiert wird.

Ich bekam zudem detailliert beschrieben, wie ich nun vorzugehen hatte. In der Regel kommen Hunde zum Entlaufensort zurück, da sie dort ihren Besitzer vermuten. Ich solle am besten dort gleich eine Futterspur ins Haus legen – bestehend aus Würstchenwasser und zerkrümmelten Fleisch. Diese Möglichkeit bestand aber nicht.

Also sollte ich im Plan fortfahren und um den letzten Ort der Sichtung, 1km in jede Himmelsrichtung, eine Futterstelle errichten und diese mit jeweils einer Wildkamera versehen. In meinem Fall war das die Tankstelle von Rosbach. Den jeweiligen Kilometer sollte ich mit einer Dose Wurstwasser mit Loch ablaufen und so eine Spur legen. Meine Freunde vom Ehrenamt ließen mir ein Rezept einer gruseligen Fleischsuppe zukommen, der kein Hund wiederstehen könnte (Innereien vom Metzger, Grillhähnchen vom Stand usw). Für mich als Veganer kam das aber in dieser Art nicht infrage, zumal ich stark bezweifelte, dass wir sie mit Futter ködern könnten. Ich holte mehrere Gläser mit Würsten und fuhr bis Bad Vilbel um mehrere Ehrenamtliche abzuklappern, Flyer zu verteilen, Wildkameras zu besorgen, mir die Bedienung erklären zu lassen und zu einer Mitarbeiterin einer Großküche zu fahren, um Eimerweise Chicken Nuggets, Nudeln und sonstiges Fleisch abzuholen. Es hatte 35 Grad im Schatten und ich war bereits selbst im Eimer.

Bis in die Abendstunden hinein installierte ich die Kameras, tropfte das Würstchenwasser auf den Boden, zerkrümmelte die Würstchen in meiner Hand und ließ diese wie bei Hänsel und Gretel an den Wegesrand fallen. Mein Bauchgefühl sprach völlig gegen diese Aktion, aber ich wollte mir helfen lassen und vertraute auf die langjährige Erfahrung der anderen.

Mein geplanter und gebuchter Urlaub in wenigen Tagen löste sich in Luft auf, da sie auch in den nächsten zwei Tagen nicht auftauchte. Meine Urlaubstage wurden zum Vollzeitjob, indem ich meinen Tank verfuhr und ausgerüstet mit Futter, Mülltüten, Würstchengläsern und meinem Laptop die Wildkameras abklapperte, um die SD Karten an Ort und Stelle auszulesen, Akkus zu tauschen und die Futterstellen neu zu bestücken. Dazwischen war ich im ständigen Kontakt mit dem Hundefänger und meinen Helfern im Hintergrund, die sich um social Media und Co. kümmerten.

Dazu fuhr ich immer wieder mit dem Rad bis nach Rosbach und lief dort auch bis zu 12km, um ihr den Weg nach Hause zu zeigen. Das gab mir mehr Hoffnung, als ständig Fleischreste und Wildkameras zu verteilen. Mit dem Sonnenaufgang ging es los und zur Dämmerung war ich wieder zu Hause, immer in Erwartung, sie vor meinem Haus wiederzufinden, doch alles schien hoffnungslos. Ich war ein Wrack. Als ich hörte, dass gerade Hunde aus dem Ausland, nach 24 Stunden wieder in ihren „Überlebensmodus“ verfallen und ich mich darauf einstellen müsse, sie über mehrere Monate oder gar ein Jahr an Futterstellen zu binden, um sie am Ende mit einer Lebendfalle zu sichern, dachte ich wirklich, ich sei im falschen Film.

To be continued in Teil 3.

— Jamie

4 Gedanken zu “Teil 2 – Auf dem Weg zu mir selbst: Von Hoffnung, Zweifeln und Lehrgeld

  1. Da hast Du Jamie Dich sicher oft über Dich selbst gewundert, wozu Du auf einmal fähig und in der Lage bist, wenn eine entsprechende Krisensituation – wie die von Dir beschriebene – eintritt. Spannende, dramatische Geschichte; da bin ich gespannt auf Teil 3… LG, Uwe

    1. Hallo Uwe,
      du sagst es! Das war eine Erfahrung die ich nicht nochmal machen möchte und auch nicht meinem ärgsten Feind wünschen würde. Teil 3 ist schon in der Pipeline 🙂

      LG, Jamie

  2. Wir haben seit gestern ein einjähriges rumänisches Hundemädchen, eher unvorbereitet, da „Notfall“ und sind nun auf einem ähnlichen Weg. Bin auch gespannt auf Teil 3. Vielleicht laufen wir uns ja mal über den Weg, bin ja normalerweise sehr viel auf den hiesigen Trails unterwegs und hoffe, dies bald mit unserer Mayla gemeinsam tun zu können. Liebe Grüße aus HG-Kirdorf.

    1. Hallo Silvana,
      erstmal Glückwunsch zum Neuzugang! Würde mich freuen, wenn wir uns mal begegnen, sind ja nur ca. 3km auseinander – sprich mich einfach an 🙂

      LG aus F-Dorf,
      Jamie

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